Fotografie als Reproduktion einer artifiziellen Realität

Kunst und Technik – Kunst vs. Technik

Seit Beginn der Fotografie wurde betont, dass sie sich von der bildenden Kunst dadurch unterscheide, dass zu ihrer Umsetzung immer ein Apparat mit festgelegten und unüberwindbaren Gesetzmäßigkeiten zwingende Voraussetzung sei, während es eine entsprechend absolute Setzung in der bildenden Kunst nicht gäbe.

 

Der erste Treppenwitz dieser Geschichte ist die Tatsache, dass die ersten Daguerreotypien mit lediglich modifizierten Modellen der „Camera Obscura“ hergestellt wurden, die schon Künstler wie Canaletto oder sein Neffe Bellotto Generationen zuvor benutzten, um genaue Vorzeichnungen ihrer Gemälde anzufertigten. Neben der Tatsache, dass diese Unterscheidung also nicht nur sachlich falsch ist, folgt diese Dichotomie vor allem dem gewandelten Kunstbegriffs des 19. Jahrhunderts, nach der nur eine technisch vermeintlich freie, bildende Kunst eine autonome Kunst sei.

 

Der Begriff der „künstlerischen Schöpfungshöhe“ definiert bis heute eine willkürliche Grenze zwischen freier und technischer Werkgenese. Was heutzutage für Kommunikations-, Grafik- und Webdesigner gilt, die sich in ihrer Arbeit mit Computern und Computerprogrammen nur im Falle eines - ebenso unklaren - kreativen Überhangs auf das Urheberrecht berufen können, galt noch vor wenigen Jahrzehnten auch für Fotokünstler, überdies ein Begriff, der überhaupt erst im Zuge der Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts akzeptiert wurde.

 

Die Unterscheidung zwischen einer autonomen, von technischen Zwängen freien Schöpfung von Artefakten in der bildenden Kunst und einer technikbasierten Schöpfung von Apparate-Artefakten passt zu diesem Denken aus dem 19. Jahrhundert. Die technischen Voraussetzungen bei Werkschöpfungen der bildenden Kunst wurden dabei ebenso marginalisiert wie die Freiräume künstlerischer Entscheidungen in der Fotografie. Dabei lohnt es sich, genauer auf die technischen Aspekte bei der Einordnung und Entwicklung in der bildenden Kunst einzugehen.

Der mimetische Schock einer neuen Technik

Die technische Professionalisierung der Malerei, die Verwendung optischer Hilfsmittel und die Entdeckung perspektivischer Darstellungen führte zu Beginn des 15. Jahrhunderts vermutlich zu einem Schock in der Wahrnehmung, der vergleichbar mit den Rezeptionserlebnissen der ersten Daguerreotypien ist. Die mimetische Nachbildung der sichtbaren Wirklichkeit war zuvor allenfalls und nur von Skulpturen der griechischen und römischen Antike geläufig, die Malerei blieb den formalen und technischen Traditionen byzantinischer und mittelalterlicher Kunst bis weit ins 14. Jahrhundert verpflichtet.

 

Dass Jan van Eyck die Ölmalerei erfunden hätte, ist zwar eine Legende, wahr ist jedoch, dass er und seine flämischen Zeitgenossen das technische Potenzial der Ölmalerei perfektionierten und ausschöpften, um damit in zweidimensionalen Werken eine bislang unerreichte Mimesis der sichtbaren Wirklichkeit zu erzielen und die schematisch-zeichenhaften Wiedergaben durch singulär-individuelle, der Wahrnehmung entsprechende Darstellungen zu ersetzen.

Wilton-Diptychon, um 1395
Wilton-Diptychon, um 1395 (Detail)
Jan van Eyck: Mann mit rotem Turban, 1433 (Ausschnitt)
Jan van Eyck: Mann mit rotem Turban, 1433

Die überwiegende Wahrnehmung eines Faktischen im Artefakt setzte sich also schon vor 600 Jahren durch. Erst auf Grundlage dieser rasanten technischen Entwicklung innerhalb weniger Jahrzehnte konnte Vasari später seine mit Mythen aufgeladenen Biografien verfassen. Biografien von Künstlern, nicht mehr von Handwerkern.


Technische Revolutionen

Im 19. Jahrhunderts führten erneute technische Entwicklungen zu einem Wandel in der bildenden Kunst. Die industrielle Revolution, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vor allem eine Revolution der chemischen Industrie war, schuf Voraussetzungen, die nicht mehr das handwerkliche Können und technische Kenntnisse eines Jan van Eycks benötigten, sondern es auch Autodidakten ermöglichten, Malerei auszuüben.

Tuben von Winsor & Newton
Tuben von Winsor & Newton, Quelle: http://www.winsornewton.com/na/articles/art-history/history-metal-paint-tube/

Parallel zur Entwicklung der Daguerreotypien bot Winsor & Newton seit 1841 industriell gefertigte Ölfarben in Tuben mit neuen, leuchtenden Farben der chemischen Industrie an, Händler boten fertig aufgespannte, in modernen Fabriken hergestellte Leinwände auf Keilrahmen in standardisierten Formaten für Landschaften, Seestücke oder Porträts an, fertig grundiert mit unterschiedlichen Farbtönen. Freie Ölskizzen existierten bereits im 18. Jahrhundert, aber der Aufwand sorgte dafür, dass diese Praxis ein Nischendasein führte. Es waren vorwiegend technische Voraussetzungen, die nicht nur den Siegeszug des Impressionisten ermöglichten, sondern auch die künstlerische Tätigkeit der Autodidakten Rousseau, Gauguin, van Gogh oder Cézanne.

 

Die Freiheit von der Bürde technischer Kenntnisse ermöglichte zugleich neue und freiere Malstile. Die zunehmende Unkenntnis maltechnischer Grundlagen führte nicht nur zu restaurierungsbedürftigen Werken noch zu Lebzeiten der Künstler. Die subjektive, ja naiv-freie Handhabung des Malmaterials generierte zugleich neue Kunstströmungen. Kulturpessimisten unter den Kritikern wurden nicht müde zu betonen, dass die schlechte, ja schlampige Malweise eine Symbiose mit den gezeigten Machwerken bilden würden. Ohne negative Konnotation betrachtet, traf das sogar zu.


Edouard Manet orientierte sich formal und thematisch beispielsweise an Velázquez, allerdings ohne Orientierung an dessen komplexen, technischen Bildaufbau. Manets verkürzte Maltechnik des 19. Jahrhunderts führte zu der typisch flachen, ja leicht plakativen, damit aber auch modernen Bildwirkung in Verbindung mit seinen Sujets. Ob diese Wirkung in Mantes Absicht lag, ist dabei irrelevant. Hätte er mit einer „altmeisterlichen“ Technik sein Vorbild Velázquez im Sinne einer Aemulatio paraphrasiert, wären seine Frühwerke womöglich nur eine Randnotiz geblieben. Belegt ist die Abhängigkeit der Bildwirkung von der eingesetzten Technik auch durch Gerhard Richter, der nach eigenem Bekunden gern die Wirkung von Vermeers Technik angestrebt hätte, ihm dies aber nie gelungen sei. Was, so ließe sich ergänzen, mit der Alla Prima-Technik, die auch Richter anwendet, schlicht unmöglich ist.


Noch evidenter wird die technische Relevanz am Beispiel von Claude Monet, der den modernen Tubenfarben zunächst einen Großteil des Öls entzog, indem er sie vor dem Gebrauch auf seiner Palette auf ein Löschpapier ausdrückte. Die sehr zähen Farbpasten trug er dann in mehreren Schichten auf die Leinwand auf. Monet nahm zugunsten der technisch vereinfachten Verfügbarkeit der Tubenfarben den Preis eines zusätzlichen Arbeitsschrittes in Kauf, anstatt Pigmente ganz einfach mit wenig Öl anzureiben.

 

Mit der Abkehr von der Mimeses des Sichtbaren und dem Siegeszug der Moderne zur Wende des 20. Jahrhunderts wurden maltechnische Traditionen als künstlerisch reaktionär negativ bewertet, der langwierige Bildaufbau in dünnen, halbtransparenten Lasurschichten galt als verpönt, ja vergangenheitsverklärend und antimodernistisch. So soll Wilhelm Leibl über Hans Thoma abfällig bemerkt haben: „Ich glaube, das Schwein lasiert.“

Das Dilemma der Fotografie im Zeitalter der Moderne

Impressionismus, Postimpressionismus und Expressionismus schienen den Autonomieanspruch des 19. Jahrhunderts endgültig eingelöst zu haben. Ergänzend zu den Brüchen mit formalen und thematischen Tabus sah es so aus, als hätten sie sich auch endgültig von der technischen Knechtschaft befreit, die das Malmaterial Generationen vor ihnen auferlegt hatte.

 

Für das Selbstverständnis und die Akzeptanz der Fotografie als Kunstform erwies sich diese Entwicklung der Malerei als fatal, vor allem in Frankreich und Deutschland. Die „Apparate-Mimesis“ als Grundlage der Fotografie erschien zunehmend als Anachronismus: mit der Hand generierte Bilder machten etwas mit der Wirklichkeit, mit Apparaten generierte Bilder zeigten dagegen nur etwas von der Wirklichkeit. Die Innovationsschübe in der optischen Industrie und eine zunehmende Professionalisierung der technischen Mittel der Fotografie begannen zu einem Zeitpunkt, als sich die bildende Kunst von technischen Traditionen und Vorgaben längst emanzipiert hatte.

 

Nachdem die Künstler schon den Postimpressionismus hinter sich gelassen hatten, versuchten die Piktorialisten in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts mit ihren Fotografien, verschiedene Bildsprachen von den Präraffaeliten bis zur Barbizon-Schule mit der Wahrnehmung impressionistischer Bilder zu kombinieren, oft mit großen und konzeptuell hohen Ansprüchen von der Bildfindung bis zum Abzug.

Paul Cézanne: Mont Sainte-Victoire, 1904-1906
Paul Cézanne: Mont Sainte-Victoire, 1904-1906
Frank Eugene: Piktorialisten Eugene, Alfred Stieglitz, Heinrich Kühn, Edward Steichen, 1907
Frank Eugene: Die Piktorialisten Eugene, Alfred Stieglitz, Heinrich Kühn, Edward Steichen, 1907
Alice Boughton: Comforted, 1906
Alice Boughton: Comforted, 1906
Edward Steichen: Rodin, 1903
Edward Steichen: Rodin, 1903

Es gab schon früh immer wieder Versuche, auch Farbfotografien herzustellen, 1868 ließ Ducos du Hauron seine Heliochromien patentieren, Adolf Miethe erfand die Dreifarbenfotografie, Lumière ließ 1905 das Autochrome patentieren, 1935 kam der Kodachrome, 1936 der Agfacolorfilm auf den Markt. Dennoch galt bis in die 1980er Jahre nur das Schwarzweißbild als alleiniger Maßstab qualitativ ernstzunehmender Fotografie – eine Auffassung, die bis heute Geltung besitzt. Farbfotografie wurde als Mittel der Reklametechnik betrachtet oder als private Schnappschussfotografie, verortet irgendwo zwischen reiner Handwerkerei und Kodak Brownie-Fotografie in Farbe. Die heute kaum noch nachzuvollziehenden Ressentiments erscheinen auf den ersten Blick umso kurioser, je genauer man sich die Rolle der Farbe in der bildenden Kunst der gesamten Moderne und Postmoderne vor Augen hält. Dieser Vergleich scheint mir jedoch nicht so relevant zu sein wie die Tatsache, dass die Schwarzweißfotografie auf Grund der Abwesenheit jeglicher Farbe gerade den Charakter eines künstliche Artefakts verteidigen konnte. Sie zeigte etwas, das ein menschliches Auge in der Realität so wenig wahrnehmen konnte wie abstrakte Formwelten bildender Künstler: eine Realität ohne Farbe.

 

Die vergleichsweise schnellere Akzeptanz der Fotografie in den USA im frühen 20. Jahrhundert hängt unter anderem mit dem Fehlen einer Diskrepanz zur bildenden Kunst zusammen, die in den Vereinigten Staaten lange der britischen Malerei des 18. Jahrhunderts verbunden blieb, die Moderne fand mit großer Verspätung statt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Stilrichtung des Amerikanischen Realismus prägend. Wichtiger Wegbereiter war Alfred Stieglitz, der bis heute bekannt ist für seine Fotos The Steerage und The Terminal. In seiner New Yorker Galerie 291 zeigte er zusammen mit Edward Steichen nicht nur Gemälde von Cézanne, Picasso, Matisse und Picabia, sondern brachte auch die den Piktorialismus prägende Zeitschrift „Camera Work“ heraus.

 

Während selbst Strömungen wie die Neue Sachlichkeit in Deutschland einen stilistisch eigenständigen Realismus als Reaktion auf die Abstraktion zeigt, konnte der Amerikanische Realismus recht nahtlos an vorhandene Traditionen anknüpfen, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg radikal und stilbestimmend vom abstrakten Expressionismus der US-amerikanischen Postmoderne abgelöst wurde. Anders gesagt: die Werke von Grant Wood oder Edward Hopper zeigen eher eine formale Nähe zu Fotografien als zu den Spielarten des europäischen Realismus. Ansel Adams Fotografien lassen sich unmittelbar von den erhabenen und menschenleeren Landschaftsgemälden der Hudson River School ableiten, die ihren Höhepunkt ab Mitte der 1870er Jahre überschritt, aber noch bis weit ins 20. Jahrhundert stilbildend blieb. Selbst die weiten und ebenfalls menschenleeren Landschaften des Schnellmalers Bob Ross lassen sich auf Bildsprachen von Albert Bierstadt oder Frederic Edwin Church zurückführen.

Thomas Cole: The Oxbow, 1836
Thomas Cole: The Oxbow, 1836
Ansel Adams: The Tetons and the Snake River, 1942
Ansel Adams: Tetons and Snake River, 1942

Roland Barthes beschrieb einen für ihn „magischen“ Charakter der Fotografie, die sowohl als Fakt, als auch als Artefakt wahrnehmbar sei, wobei er sich freilich auf den analogen Bildabzug bezog [1]. In einer ersten Überlegung erschien es mir zunächst zweifelhaft, hier von einer Paradoxie auszugehen. Es stimmt natürlich, dass in dem Moment, in dem man zu einem Fotoabzug greift, zunächst seine physische Beschaffenheit auffällt, also die Evidenz des Artefaktes wahrgenommen wird. In dem Moment jedoch, in dem man den belichteten Teil des Abzugs betrachtet, wird nur das Bild selbst wahrgenommen, also die Evidenz eines Faktums der mit dem Apparat aufgenommen Situation. Eine simultane Wahrnehmung als Artefakt und Fakt ist unserem Gehirn nicht möglich, ähnlich den Vexierbildern, bei denen man zwei verschiedene Motive erkennen kann, nur eben nie gleichzeitig.

Die Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen unseres Gehirns sind allerdings ebenso wenig imstande, das Sichtbare auf der belichteten Fläche des Fotos nicht als Fakt wahrzunehmen, das zudem stark affizieren kann. Barthes beschrieb das mit seinem bekannten punctum-Theorem eines „Es ist so gewesen“-Moments.

Spur, Punctum und Dokumentation des Realen

Ist aber die belichtete Fläche selbst nicht ebenfalls nur ein Artefakt im Sinne einer artifiziellen Erscheinung? Warum überhaupt wird der Fotografie fast zwanghaft das Vorhandensein einer Spur, eines Abbilds oder einer dokumentarischen Wiedergabe der Realität zugesprochen, nicht jedoch einem Gemälde, einer Zeichnung oder einer Grafik? Die Fragen sollen nicht implizieren, dass es auf Fotos nichts zu sehen gäbe, was es nicht auch in der Realität zu sehen gäbe. Natürlich erkennt oder identifiziert man Etwas auf einem Foto, das man in der Regel auch in der Realität unserer visuellen Wahrnehmung findet.

 

Um nicht erneut in Falle der Realitätsabbilder zu geraten, möchte ich deshalb den Fokus nicht darauf richten, was auf Fotos gezeigt wird, sondern darauf, wie es gezeigt wird.

So schön bunt hier

Für den Charakter der Fotografie war und ist die verwendete Fototechnik, das Filmmaterial bzw. die Bildverarbeitung der Sensoren sowie die Brennweiten und Abbildungsleistungen der verwendeten Objektive entscheidend für das Ergebnis. Die seit über 150 Jahren andauernden Ingenieursleistungen zur Optimierung von Objektiven spielen allenfalls als Thema der Technikgeschichte eine Rolle, nicht in Bezug auf die Fotogenese und ihrer Rezeption. Ähnliches gilt für die Innovationsschritte von analogem Filmmaterial, der stetigen Entwicklung neuer, digitaler Bildsensoren und der Metamorphose intelligenter Automatikfunktionen von mechanisch-manuellen Einstellungen über mikroelektronischen Steuerungen bis zu kamerainterner Software.

Seit den 1920er Jahren konzentrierte sich die Fotografie hauptsächlich auf die Disziplin der bestmöglichen, von technischen Darstellungsfehlern befreite Abbildung der Realität. Am Ende dieser Entwicklungen stehen leistungsfähige KI-Systeme in Smartphones, die für die Fotoergebnisse wichtiger sind als die eingesetzten Objektive und Sensoren.

 

Die Rede ist aber immer von der Fotografie. So ist es kein Wunder, dass außerhalb chronologischer Zusammenstellungen Reproduktionen von Heliographien, Daguerreotypien, Kalotypien und Gummidrucken neben Negativabzügen, Kodachromes, Polaroids und Diapositiven zu sehen sind.

 

Kaum Informationen findet man dagegen, ob Fotos mit einem Petzvalobjektiv, einem Achromaten, einem Gaußschen Doppelobjektiv, einem Heliar, Tessar, Sonnar oder Apochromaten gemacht wurden, noch seltener Aussagen über Absicht oder Motivation, dieses oder jenes Objektiv zu benutzen, die Eigenschaften und Unterschiede werden allenfalls in techniklastigen Blogs, Artikeln oder Videos diskutiert. Ansonsten wird das Narrativ stillschweigend vorausgesetzt, es käme nur auf die Fotograf*innen an, die Fotos machen, nicht auf die Technik.

 

Es wäre für Ansel Adams oder Richard Avedon technisch nicht möglich gewesen, ihre mit Großformatkameras gemachten Fotos auch mit den Leica-Kameras von Henri Cartier-Bresson und Alfred Eisenstaedt zu reproduzieren, beziehungsweise umgekehrt. 

 

Die Fotografie gibt es somit allein schon deshalb nicht, weil es die Fototechnik nicht gibt. Von Smartphone-Kameras wissen die meisten Nutzer*innen heute nur soviel, dass die Fotos aber immer knackig scharf bis in die Ecken werden, dass man die Fotos mit verschiedenen Apps oder Filtern direkt bearbeiten, verändern oder komplett verfremden kann. Mehr muss man aber auch nicht wissen, um damit heute technisch perfekte Fotos zu machen und über soziale Medien zu teilen.

 

Zu Beginn der Arbeit am Projekt der Bildkritik habe ich über einige Wochen verschiedene Arbeitssituationen, den Malprozess und das Gemälde selbst dokumentarisch begleitet. Zum Einsatz kamen zunächst nur eine Handvoll Kameras mit Objektiven, wenige aktuelle und für das Bajonett passende, in der Mehrzahl alte und per Adapter an die Kameras gebrachte Exemplare aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anfangs wollte ich ebenfalls nur etwas von der Wirklichkeit der jeweiligen Situation zeigen. Ich begann, die Objektive mit Vorsatzlinsen oder vorgeschraubten Effektfiltern zu versehen, um damit die Fotos zu verfremden. Nachdem ich immer mehr Kameras aus dem Gebrauchtmarkt kaufte und diese ebenfalls mit verschiedenen Objektiven bestückte, erkannte ich, dass selbst bei absolut identischen Gegebenheiten jedes Objektiv das jeweilige Motiv individuell abbildete. Meistens waren die Unterschiede subtil, teilweise aber schon auf den Kameradisplays deutlich erkennbar. Dann besorgte ich mir nacheinander mehrere alte Kompaktkameras aus der Frühzeit der Digitalfotografie. Hier waren die sichtbaren Unterschiede noch evidenter. Die Apparate und Objektive zeigten vielleicht etwas, aber jenes Etwas schien doch sehr heterogen und divers zu sein. Die Kameratechnik zeigte keine Wirklichkeit, sie machte etwas mit der Wirklichkeit, wenn auch nur als Interpretationen auf technischer Basis.

Das perfekte Foto

Viele Fotografen, die mit alten, zumindest nicht aktuellen Objektiven arbeiten, begründen ihre Vorliebe mit deren Eigenschaften und verwenden gern den Begriff „Charakterlinsen“. Ich selbst betrachte diesen Begriff kritisch und spreche lieber von charakteristischen Abbildungseigenschaften. Was in diesem Zusammenhang als Charakter oder Individualität bezeichnet wird, sind in Kauf genommene, fehlerbehaftete Abweichungen von den bestmöglichen Leistungen eines Werkzeugs.

 

Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, affizieren die mit solchen Objektiven gemachten Fotos unsere Wahrnehmung ebenso sehr wie Gesetze der Gestaltungslehre, der Komposition oder der Lichtführung. Günstige oder auch ältere Objektive zeigen beispielsweise Schwächen an den Rändern und vor allem in den Ecken des belichteten Films oder digitalen Sensors, sie neigen dort zu Randabschattungen bei gleichzeitiger Unschärfe. Selbst im Zentrum, wo für Hersteller eine gute Leistung am einfachsten umzusetzen ist, zeigen fast alle älteren Objektive nicht annähernd die Schärfe der aktuellen, nahezu alle Abbildungsfehler korrigierende Gläser. Für sogenannte stimmungsvolle Bilder, die den alten Idealvorstellungen von Schönheit und Erhabenheit in der bildenden Kunst entsprechen, ist die Schärfe bis in alle Ecken jedoch zweitrangig, wenn nicht gar schädlich. Vor allem in der Porträtfotografie, bei der eine dermatologisch genaue Abbildung jedes noch so feinen Hautfältchens wenig schmeichelhaft erscheinen kann, gab es die erwähnten, seltenen Ausnahmen bei Objektiven, die bewusst jenseits der fehlerfreien Eigenschaften gerechnet wurden. Hierbei handelte es sich um spezielle Formen von Weichzeichnerobjektiven.

 

Nun unterliegt das Ziel eines fehlerfreien, mimetischen Abbildes von typischen Aufnahmesituation nicht nur technischen Voraussetzungen. Wichtig sind auch die thematischen Anforderungen, kulturell bedingten Vorstellungen von Schönheit, den Wahrnehmungsgewohnheiten und nicht zuletzt den Erwartungen, die an das Faktum eines Fotos gestellt werden, zu welchem Zweck ein Foto gemacht, betrachtet, rezipiert und verbreitet wird. Die Abwesenheit von Fehlern ist somit zweckgebunden und abhängig von den genannten Parametern. Da diese Parameter zudem keine absoluten Werte einer Perfektion definieren, sondern nur Annäherungen an die Anforderungen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Erwartungen, ist es auch unmöglich, von einer perfekten Kamera, einem perfekten Objektiv oder gar einem perfekten Foto zu sprechen.

Die Marketingversprechen und Entwicklungen der Fotobranche dienen aber nicht nur dem Hauptzweck der unaufhörlichen Warenproduktion. Jede neue Kamera, jedes neue Objektiv, jede neue Version einer KI-Software oder eines neuen Bildbearbeitungs-Tools beinhaltet eine neue Annäherung an die erwähnten Parameter. Vilém Flusser definierte den Fotografen vor rund 40 Jahren als Funktionär seines Apparates und gleichzeitig als Beispiel des nachindustriellen Homo Ludens [2]. Die Kurzlebigkeit neuer Produkte und die extreme Volatilität des Gebrauchtmarktes im Bereich der Fototechnik lässt tatsächlich auf ein Spiel mit den Annäherungen schließen, ein Spiel, bei dem Fotografen und Produzenten die Hauptakteure sind.

Vor kurzem präsentierte ein Mitglied in einem Fotoforum, wie man in Adobe Lightroom, einem führenden Programm zur Fotoverwaltung und -bearbeitung, bei zu starken Kontrasten dennoch zu einem guten Ergebnis kommt. Der wichtigste Teil und eigentlicher Trick bestand in der Anwendung des Verarbeitungsprozesses aus dem Jahr 2010. Tatsächlich zeigten die Bildergebnisse dadurch eine viel bessere Ausnutzung des sogenannten Dynamikumfangs, der dafür sorgt, dass auch in extrem hellen und extrem dunklen Bereichen genug Zeichnung sichtbar wird. Als Lightroom die alte Prozessversion veröffentlichte, hatte der Trend übertriebener HDR-Foto seinen zweifelhaften Zenit überschritten [1]. Keine technische Innovation hat die Fotografie und die visuelle Bewertung von Fotos jedoch so nachhaltig beeinflusst wie das Smartphone. Mit der raschen Entwicklung von Kameratechniken, KI-Software und zahlreichen Apps änderten sich in nur wenigen Jahren mit der Wahrnehmung von Fotos auch die Erwartungen an Kontrast, Schärfe und Farbanmutung von Fotos. Dieser Wandel vollzog sich zunächst nur innerhalb der Smartphone-Welt und unabhängig von der klassischen apparatebasierten Fotografie. Mit dem Kauf eines Smartphones erwarben Nutzer*innen nicht nur eine Kamera, sondern einen Computer, mit dem sie ihre Fotos unmittelbar teilen konnten.

  1. Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt a. M., 2009
  2. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen, 1983

Ansel Adams auf 5 Zoll

Da diese Fotos überwiegend auf Smartphones betrachtet werden, sorgen KI und Apps auch für eine optimierte Darstellung auf diesen Displays. Mit der Rückkehr des Privaten in den öffentlichen Raum ermöglichten Social Media-Plattformen nicht nur die Inszenierung situativer Inhalte, auch das Foto selbst wurde inszeniert. Diese Inszenierung gelingt umso effektiver, je intensiver solche Fotos die Betrachter*innen beim schnellen Durchscrollen zu affizieren vermögen. Die durch KI optimierte Darstellung der Smartphone-Fotos setzte auf stetig verbesserte Wiedergabe auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen und auf effektsteigernde Überhöhungen bei Kontrast, Schärfe und Farbanmutung der Fotos, die dem Affekt dienten und im Zusammenspiel mit den Bildbearbeitungsfunktionen auch die in Instagram anfangs beliebten Filter weitgehend überflüssig machten. Nahezu alle Smartphone-Kameras generieren heute gesättigte, kontrastreiche und leicht überschärfte Fotos mit moderaten HDR-Effekten, sie sind „crispy & clear“, ein barockes Farben- und Kontrasterlebnis. Damit, und das erscheint mir wichtig, werden nicht mehr nur Fotos eines Motivs danach beurteilt, ob sie „instagramable“ sind, jedes Motiv selbst, ja die Sicht auf die Realität wird instagramable gemacht. Wolfgang Ullrich, mit dem ich auch die E-Mail-Korrespondenz zur Autopsie einer Bildkritik führte, hat die „Instagramability“ der analogen Welt 2020 in einem ZEIT-Artikel thematisiert [2].

 

Den Grad der softwareseitigen Bildverarbeitung der Smartphone-Fotos im Unterschied zu manuell oder automatisch bearbeiteten Fotos aus Systemkameras erkennt man freilich auf Anhieb, wenn man sie auf einem großen Monitor öffnet. Die Lichter sind zu hell, die Schatten zu dunkel, die Überschärfung ist zu evident, die Farben erscheinen zu gesättigt, die Weitwinkeloptik der Kameralinse fällt negativ auf. Das alles spielt jedoch für die Funktion oder Rezeption keine Rolle, denn kaum ein Nutzer betrachtet die Smartphone-Fotos außerhalb des Smartphones. Die Auflösung reicht theoretisch für DIN A4-Drucke, praktisch ist sie sinnlos übertrieben, Instagram beispielsweise stellt die Bilder mittlerweile mit maximal 1936 x 1936 Pixeln dar, also nicht einmal mit vier Megapixel. Das ist aber nur der hohen Auflösung moderner Smartphone-Bildschirme geschuldet, der HTML-Container, in dem die Fotos gezeigt werden, hat am Computerbildschirm noch immer die Maße von 600 x 600 Pixeln.

 

Man könnte kulturpessimistisch argumentieren, dass Ansel Adams heute zufrieden sein müsste, wenn seine berühmten Motive beim Scrollen auf einem 5 Zoll-Smartphone überhaupt noch Beachtung fänden und glücklich, falls jemand 9 x 13 cm große Abzüge im Drogeriemarkt bestellt. Fotografen, denen 60 Megapixel heute angemessen erscheinen, mögen auch weiterhin ihr Wehklagen über den Niedergang der Fotografie in Welt tragen. Die Mehrzahl der veröffentlichten Fotos wird schon seit fast einer Dekade mittels Smartphones aufgenommen, geteilt und betrachtet. Instagram beispielsweise erhöht softwareseitig automatisch Sättigung und Kontrast. Unsere Sehgewohnheiten haben sich schnell der neuen Ästhetik angepasst und diese Anpassung veranlasste nicht nur Fotografen, einen ähnlichen Look bei vielen Motiven anzuwenden, auch die Programmhersteller haben darauf reagiert. Lightroom implementierte nicht nur eine beliebte Funktion namens „Dehaze“, die aus jedem atmosphärischen Dunst eine scharfe, brillante Klarheit generiert, die Automatikfunktion wurde ebenfalls in die Richtung knackiger Ergebnisse angepasst, die nun schon beim Import und der Ansicht vermeintlich unberührter Rohdaten zur Anwendung kommen.

Beispielfoto mit gesättgten Farben und starken Kontrasten
Adobe Lightroom, Grundlage: Prozess 2013, Profil: Camera Standard
Fotobeispiel mit natürlichen Farben und Kontrasten
Adobe Lightroom, Grundlage: Prozess 2010, Profil: Adobe Standard

2018 habe ich die App-internen Bearbeitungsalgorithmen der Smartphone-Fotos angesichts eines Artikels für das Blog des Marta Herford [3] zum Anlass genommen, eine Fotoreihe mit immer neu reproduzierten Abbildungen zu erstellen [4].

Fortlaufende Reproduktionen von Smartphones-Fotos
Fortlaufende Reproduktionen von Smartphones-Fotos: Automatische Bildbearbeitung per AI [4]

Ein zweites Beispiel mag belegen, dass Bildwirkungen auf Grund optischer Gesetze, die auf Grund der Sensorgrößen und Linsen nicht für Smartphones galten, dennoch für Smartphones nachgefragt und mittels KI reproduziert wurden.

Sensoren in sogenannten Vollformat-Digitalkameras besitzen die Diagonale des alten Kleinbildformats, Smartphones haben vergleichsweise winzige Sensoren, damit auch die Objektivlinsen in das Gehäuse passen. Die Äquivalenzbeziehungen zu Vollformatkameras sind etwas komplexer und sollen hier nicht näher erläutert werden. Entscheidend ist, dass die winzigen Abstände die typisch hohe Schärfentiefe der Smartphone-Fotos ermöglichen. Für die meisten Motive war das über Jahre nicht nur ausreichend, sondern sogar erwünscht. Parallel dazu gab und gibt es aber auch immer Situationen, bei denen eine geringe Schärfetiefe vorteilhafter ist, beispielsweise klassisch anmutende Porträts, Produkt- oder Stillfotografie. Bei großen Blendenöffnungen wird eine nur kurze Tiefenebene scharf abgebildet, der Hintergrund verschwindet dabei in einer meist homogen und dadurch als angenehm ruhig empfundenen Unschärfe. Dieses Unschärfeverhalten, im engeren Sinne vor allem Lichtreflexe, die als Unschärfekreise erscheinen, haben sogar einen fotografischen Qualitäts- und Schönheitsbegriff geprägt, der heute fast immer bei Objektivbewertungen erwähnt wird: „Bokeh“ (japanisch boke, „unscharf, verschwommen“).
Dieses Unschärfeverhalten war und ist durch die in den Smartphone-Kameras wirksamen optischen Gesetze mit den dort verbauten Linsen und Sensoren allein nicht zu realisieren. Das übernehmen mittlerweile Algorithmen, teilweise im Zusammenspiel mit mehreren verbauten Kameras. Die Funktion zur Generierung einer Unschärfe hat mit dem bewussten und kontrollierten, fotografischen Akt durch ein Subjekt nichts mehr zu tun. Im Moment der Aktivierung der Unschärfefunktion wird die Fotografie tatsächlich zu einer reinen Funktionärstätigkeit, von der Flusser bereits vor knapp 40 Jahren sprach.

Jedes affektive punctum-Moment erweist sich somit als kontingent, als eines von vielen anderen, möglichen Erlebnissen. Nicht, weil es um den einen Augenblick der fotografischen Aufnahme ging, sondern um eine Aufnahme mit einem bestimmten Analogfilm in einer bestimmten Kamera und einem bestimmten Objektiv. Jede Änderung dieser Parameter würde unterscheidbare Ergebnisse generieren, damit wären auch unterschiedliche punctum-Momente eines zeitlichen Moments denkbar.

Fotos als Realitätsfetzen

Neben Barthes formulierte Georges Didi-Huberman in seinem Buch „Bilder trotz allem“ [5], dass Fotografien als Dokumentationen zu betrachten wären, als Fetzen oder Risse eines Moments des Realen. Wenn auch im Zusammenhang mit den Sonderkommando-Fotos in Auschwitz-Birkenau und in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern formuliert, definiert Didi-Huberman ebenfalls eine Verbindung zwischen Fotografie und Realität.

Was bliebe von der Realität, wäre die Wahrnehmung allein das konstituierende Merkmal, unabhängig vom betrachtenden Subjekt oder des betrachteten Objekts? Die Evidenz, die Macht des vermeintlich Faktischen der Fotografie beruht nach meiner Auffassung vor allem auf der bereits erwähnten fotografischen Eindeutigkeit des Wahrnehmbaren, dem wir uns nicht verweigern können. Der Philosoph und Phänomenologe Lambert Wiesing hat genau das in seinem Buch „Das Mich der Wahrnehmung“ [6] sehr ausführlich formuliert. Statt vom Subjekt (Barthes) oder Objekt (Didi-Huberman) her die Wahrnehmung zu erklären, gelte es, die Wahrnehmung selbst als konstituierendes Merkmal voranzustellen. Die Wahrnehmung wird bei Wiesing zu einer andauernden Zumutung des Subjekts. Hier ließe sich auch ein Axiom des der Phänomenologie unverdächtigen Psychiaters Paul Watzlawick paraphrasieren: man kann nicht nicht wahrnehmen.

Die Evidenz des Abgebildeten und Wahrgenommenen in seiner Eindeutigkeit analog zur Realität ist meiner Ansicht nach der Hauptgrund, Fotografie nicht als Artefakt, sondern als Wirklichkeitsabbild zu definieren. Das Wahrgenommene selbst schließt jedoch kausal noch keine Erkenntnis ein. So ließe sich über ein Foto mit einer Schlange auf einer verstaubten Straße diskutieren, um welche Schlangengattung es sich handeln könne, ob es sich um eine harmlose Reptil handeln würde oder um eine Giftschlange und welche Relevanz das für die Bedeutung und Aussage des Fotos hätte, es ließe sich die ikonologische Einordnung zur alttestamentarischen Geschichte der Erkenntnis und der Vertreibung aus dem Paradies herleiten oder ähnliches mehr, nur um am Ende festzustellen, dass es sich um ein abfotografiertes Seil handelt.

Nicht nur Fotobildbände mit Zusammenstellungen historischer Kontaktabzüge belegen, dass meistens nur ein oder zwei Fotos aus einer Vielzahl von Aufnahmen für Veröffentlichungen ausgewählt wurden. Es gibt wohl keine Tätigkeit der Bildschöpfung, die auch nur ansatzweise so viele Rohentwürfe dem realen oder digitalen Papierkorb übereignet wie die Fotografie. Aus diesem Grund hatte ich in meinem Projekt nach etwa der Hälfte der Arbeit kein Foto mehr gelöscht, um genau diese Kontingenz zu belegen.

Kontaktabzug des Fotografen Alberto Korda mit dem ikonischen Foto von Che Guevara
Alberto Korda: Das in den 1960ern ikonisch gewordene Foto von Ernesto „Che“ Guevara ist nur ein Bild auf dem Kontaktabzug eines Schwarzweißfilms vom 05.03.1960 aus Havanna/Kuba
Flickr-Screenshots eines Albums zum Projekt Autopsie einer Bildkritik
Ungelöschte Fotos: Flickr-Screenshots eines Albums zum Projekt Autopsie einer Bildkritik

Das Reale erfährt durch die Manifestation in der Fotografie eine auratische Aufladung als originäres, echtes, denkwürdiges Ereignis. Das spiegelt sich nicht nur wieder in Barthes‘ unzweideutiger „Es ist so gewesen“-Formulierung, sondern auch in Didi-Hubermans Definition von Fotos als Dokumentationen. Er findet sich im #nofilter-Hashtag, eine Art paradoxes Echtheitszertifikat, das dazu dient, einem per se artifiziellen, eher mittels Software denn mittels Hardware generierten und per KI automatisch optimierten Smartphone-Foto eine „Es ist so gewesen“-Garantie mitzugeben.

 

Die Vorstellung, es gäbe eine auratische Aufladung des Realen als originäres Werk zeigt sich auch in der Aberkennung zahlreicher Preise für Fotos, bei denen im Nachhinein offensichtlich wurde, dass sie zu stark manipuliert wurden [7]. Hier wird sogar der Originalitätsbegriff des originären Werkcharakters evident. Interessant sind dabei vor allem die Bewertungsparameter, denn wohl kein Siegerfoto entspricht einer OOC-Aufnahme („out of cam“) und selbst dann wären bereits kamerainternen Optimierungseinstellungen für Farben, Kontraste oder Objektivkorrekturen inhärente, funktionelle Manipulationen wie zu analogen Zeiten die Eigenschaften der einzelnen Filmtypen.

Zu den Narrativen originärer, echter, originalgetreuer Eigenschaften der Fotografie passt auch die Debatte um die Fotografie als Lüge. Vorausgesetzt wird hier, dass es eine Wahrheit geben würde, mit der man die Fotografie messen könnte. Zwischen der Wahrnehmung und der Wahrheit besteht jedoch kein Zusammenhang, diese Korrelation ist ein weiteres Gedankenkonstrukt aus den Ideen der Moderne des 19. Jahrhunderts, nach denen neben dem Schönen und Guten auch das „Wahre“ dem Ideal entsprach, das es abzubilden galt.

Ein Zugang zum Charakter der Fotografie lässt sich also nicht ohne eine Definition des Wahrgenommenen herstellen. Da ich diesen Zugang ohne Verbindung zu einer abgebildeten Wirklichkeit beschreiben will, bleibt die Frage bisher offen, was genau wahrgenommen wird. Diese Frage stellt sich aber in gleichem Maße für jedes Werk der bildenden Kunst. Antimodernisten beklagen schon seit 150 Jahren, dass man auf den Gemälden nichts mehr erkenne, etwas, das man ebenso in der Wirklichkeit wahrnehmen und mit ihr vergleichen könne. Ein Problem, dass die sprichwörtlichen Realisten nicht kennen und selbst bei Gerhard Richter gibt es Fans seiner gemalten Fotografien, die seinen abstrakten Bildern ablehnend gegenüberstehen. Doch auch Dürerhasen- und Fotorealismus-Freunde würden wohl nie auf die Idee kommen, von einer Spur der Wirklichkeit zu reden, die ihren Weg in das Gemälde gefunden und von dort zum punctum-Moment der Betrachter*innen führt, oder von einem Fetzen als Dokumentation eines Moments des Realen, das der begnadete Maler eingefangen hätte.

Meine Bemerkung, Barthes‘ affektives punctum-Moment würde sich bei genauerer Betrachtung als kontingent erweisen, bezog ich weiter oben auf die eingesetzte Fototechnik. Ich bin aber davon überzeugt, dass grundsätzlich jedes Foto kontingent ist. Es mag Beispiele geben wie Sportfotografie, Fotoberichterstattung oder Street-Fotografie, bei denen der so oft beschworene „entscheidende Augenblick“ nicht in gleicher Qualität eine Sekunde vor oder nach genau dem Augenblick realisierbar gewesen wäre, in dem mit 1/250stel Sekunden das Foto entstand. Dafür gab es in der einen Sekunde vor und nach dem Augenblick aber exakt 500 Möglichkeiten, andere Augenblicke mit 1/250stel Sekunden aufzunehmen. Die Kontingenz wird nicht durch die gemachten, sondern durch die nicht gemachten Fotos bestimmt. Moderne Digitalkameras schaffen mindestens 10 Auslösungen pro Sekunde, das ergäbe in den zwei Minuten dies- und jenseits des entscheidenden Augenblicks 1.200 Auslösungen. Unwahrscheinlich, dass sich unter diesen nicht gemachten Aufnahmen kein weiterer entscheidender Augenblick gefunden hätte.

Neben der Kontingenz, die mittels Aufladung als entscheidender Augenblick verschleiert wird, kommt noch der Umstand der sprichwörtlichen Flüchtigkeit des Augenblicks hinzu. Kinofilme zeigen seit Jahrzehnten 24 Bilder pro Sekunde, genug also, dass wir als Zuschauer die einzelnen Bilder nicht mehr erkennen. Alles, was mit einer für die Fotografie bereits recht langen Belichtungszeit von 1/24stel Sekunde aufgenommen wird, macht vielleicht etwas sichtbar. Fest steht aber, dass sich dieses Sichtbare bereits der menschlichen Wahrnehmung entzieht. Das Foto einer Sportreportage, das heute mit Belichtungszeiten von 1/8000stel Sekunde aufgenommen werden kann, friert bereits einen Moment ein, der selbst in der Wahrnehmung anwesender Zuschauer noch nicht einmal vorstellbar ist. Im umgekehrten Fall führen extrem lange Belichtungszeiten bei bewegten Motiven ebenfalls zu Ergebnissen, die in der Wahrnehmung einer sich ständig ändernden Wirklichkeit nicht nachzuvollziehen ist. Was die Fotografie als Realitätsabbild verspricht, wird deshalb eher von Video/Kinofilm eingelöst.

Springender Hund im Wasser mit sehr kurzer Belichtungszeit.
In der Realität nicht wahrnehmbar: Eingefroren durch sehr kurze Belichtungszeit, Digitalkamera
Springender Hund im Wasser mit längerer Belichtungszeit.
In der Realität nicht vorhanden: Unschärfe durch längere Belichtungszeit. Analogkamera, Diafilm

Das unbefangene Auge und die Fotografie

Mit dem zugeschriebenen Realitätsbezug der Fotografie ist nicht nur das Originäre und Wahrhaftige verbunden, sondern auch die Unbefangenheit, kurz: das Foto als stummer, unabhängiger Zeuge. Um nicht in die Falle eines rein ausführenden Akteurs im Sinne von Flussers Funktionär oder eines Reproduktionsfotografen zu geraten, wird deshalb stets betont, nicht die Technik des mit einem Objektiv bestückten, lichtdichten Kastens sei bestimmend, sondern der Mensch dahinter. Ich habe dargelegt, dass es für die Fotografie lange schwer war, als Kunstform gegen die mit der Hand geschaffenen Artefakte akzeptiert zu werden und zu bestehen. Was den Smartphone-Nutzer*innen heute gern von der Generation Ü40 vorgeworfen wird, nämlich eine falsche Inszenierung der Wirklichkeit als Zeichen von Beliebigkeit, Narzissmus oder Hybris, das galt ebenso für die frühe Porträtfotografie der Berufsfotografen. Mit gemalten Hintergründen, der Fixierung der Modelle auf den Stühlen, dem Posieren und frühen Formen der Beauty-Retusche bei der Entwicklung wurde die Realität interpretiert, um dem Zeitgeist und den Kundenwünschen zu entsprechen. Heute dienen Locations, Beleuchtung oder Requisiten der Inszenierung, die lediglich subtiler und realitätsnaher erscheinen als die gemalten Hintergründe in den Studios des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Subtilität ist vergleichbar mit den „Matte Paintings“, bis in feinste Details realistisch gemalte Filmkulissen auf Glasplatten, die z.B. bei den ersten „Star Wars“ Science Fiction-Filmen ausgiebig verwendet wurden [1] [2].

 

Mit der Entwicklung von lichtstarken Objektiven, feinkörnigen Filmsorten und kleineren Kameras fiel nicht nur die technische Notwendigkeit dieser Inszenierungen fort, es ermöglichte auch die Dokumentations- und Reportagefotografie, mit denen der Begriff der Unbefangenheit vor allem in Verbindung gebracht wird. Neben vielen Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson gilt das besonders für die Kriegsfotos von Robert Capa, vor allem „The Falling Soldier“ des Spanischen Bürgerkriegs und „Man in the Surf“ am D-Day [3]. Unabhängig davon, dass diese Form der Kriegsberichterstattung erst durch die damals neuen Mittel- und Kleinbildformatkameras möglich war, wurde und wird bei diesen beiden ikonischen Bildern immer der spontane, nicht vorhersehbare, nicht inszenierte Augenblick des Unmittelbaren und damit Unbefangenen in den Aufnahmen betont. Dem entscheidenden Augenblick der Auslösung wird in Exegese und Rezeption die Bedeutung des „begnadeten Pinsels des Meisters“ zugesprochen. Der entscheidende Augenblick des Kriegsberichterstatters wird zum begnadeten Moment des Fotokünstlers.


Die mit dieser Zuschreibung verbundene auratischen Aufladung der Capa-Fotos entspricht den Aufladungen von Kunstwerken. Hier wird der Anspruch an die Originalität noch evidenter als bei den erwähnten Wildlife-Fotografen. Von „The Falling Soldier“ sind nur Abzüge, aber kein Negativ überliefert. Immer wieder tauchen berechtigte Zweifel am „Es ist so gewesen“-Charakter von Capas Fotografien auf und ähnlich wie bei Fälschungen oder abgeschriebenen Werkstattarbeiten in der bildenden Kunst wird die Relevanz angezweifelt, die es auch außerhalb des Charakters als eventuell gestelltes, manipuliertes oder inszeniertes Foto als ikonisches Werk und Symbol für den Spanischen Bürgerkrieg besaß und auch weiterhin besitzen wird. Was als Kritik Jahrzehnte nach dem weltpolitisch wichtigen Ereignis geäußert wird, erscheint mir eher als Strategie der Vermeidung einer kognitiven Dissonanz, um einem überkommenen Glauben an unzweifelhafte Originalität, auratischer Aufladung und Wahrhaftigkeit von fotografischen Artefakten nicht abzuschwören zu müssen.

 

Für meine These, dass die Fotografie ein vollständiges Artefakt sei, das der Wahrnehmung zugemutet wird wie die Realität, reicht das immer noch nicht aus. Zwar steht die Existenz der Realität als Spur, Dokumentation oder was auch immer auf dem Foto zu sehen sei soll, vielleicht auf tönernen Füßen. Um sie als artifiziell zu belegen, bediene ich mich nun der Analogie zu einer älteren und weitgehend ausgestorbenen Kunstgattung, die ebenfalls sichtbare, aber artifizielle Interpretationen einer Realität geschaffen hat: die der Druckgrafik, speziell der Reproduktionsgrafik.

Fotografie als Reproduktion ohne Original

Die anfangs erwähnte Krise der mimetischen Kunst beim Auftauchen der Fotografie traf mit voller Wucht nicht die Malerei, sondern die Druckgrafik, vor allem außerhalb der Kunst. Am Ende des 19. Jahrhunderts spielte die aufwendige Reproduktionsgrafik in populär- und fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen kaum noch eine Rolle und war durch fotografische Abbildungen verdrängt worden. Im Begleittext zur Ausstellung „Das Kunstwerk und seine fotografische Reproduktion“ im Musée d’Orsay 2006 wird ein Lob Francis Weys von 1851 zur Fotografie zitiert: „Wenn es sich um einen geschickten Maler-Kopisten oder Graveur handelt, verändert er die charakteristischen Aspekte der Vorlage. Sollte das nicht zutreffen, wird ihnen die Kopie misslingen. Diese Schwierigkeiten können nur durch die Heliografie gemeistert werden, die in diesem Bereich wahre Wunder vollbringt“ [4].

Seit der Renaissance haben viele erfolgreiche Künstler auf die Verbreitung ihrer Werke durch Reproduktionen gesetzt, zu den Bekanntesten zählen Albrecht Dürer und Peter Paul Rubens. Während Gemäldekopien und -repliken in Material, Form und Inhalt weitgehend identisch mit ihren Vorbildern waren, bildete die Druckgrafik eine eigenständige und bei Sammlern oder Kunden hoch geachtete Kunstgattung. Oft modifizierten die Künstler mehrfach ihre Motive, gelegentlich inszenierten sie die dargestellten Szenen neu, sofern der Medienwechsel von der farbigen Halbtonmalerei zur Schwarzweiß-Strichgrafik das erforderte. Dürer oder Rubens überwachten selbst die Arbeit an den Grafiken, denn für die Ausführung waren in der Regel spezialisierte Stecher zuständig, von denen mehrere Namen bekannt sind, da sie auf Grund ihrer Fähigkeiten ebenfalls Ruhm und Anerkennung bei Sammlern und Kunden erlangten [5] [6].

 

Die Analogie der Fotografie zur Zeichnung wäre wenig überzeugend. Der Fotopionier William Henry Fox Talbot gab seinem bekannten Buch zwar den Titel „The Pencil of Nature“, die Zeichnung folgt jedoch einem sukzessiven Entstehungs- und Kontrollprozess. Das Foto und die Druckgrafik sind dagegen unmittelbare Ergebnisse einer technischen Apparatur, deren Gesetzmäßigkeiten sie unterworfen sind und sich im Moment der Entstehung jeder Kontroll- und Änderungsmöglichkeit entziehen, jede Form konzeptueller Festlegung muss dem Entstehungsprozess vorangehen. Für Reproduktionsgrafiken und Fotografien gleichermaßen gilt: ab dem Moment ihrer Entstehung existieren sie zusammen mit dem Abgebildeten außerhalb der Zeit. Es gibt einen Zeitrahmen der Betrachtung, aber das wahrgenommene Werk selbst verweigert sich diesem Rahmen. Damit kann sich auch das wahrnehmende Subjekt der Zeitlichkeit des eigenen Daseins entziehen. Vielleicht ist dieser Umstand eine Verbindung zu dem Erlebnis, das Lambert Wiesing in seinem Buch mit dem Begriff der „Partizipationspause“ beschrieben hat.

Es gibt jedoch bezüglich der Vorlage des Abbilds einen entscheidenden Unterschied zwischen Reproduktionsgrafik und Fotografie. Das Gemälde als Vorlage entzieht sich vor, während und nach der Grafikerstellung der vergänglichen Zeitlichkeit. Die Wirklichkeit als Vorlage der Fotografie unterliegt, sofern es nicht ebenfalls um Reproduktionsfotografie geht, dagegen unablässig der vergänglichen Zeitlichkeit, eine Vorlage, die nur im flüchtigen Augenblick der Belichtung existiert. Dieser Moment generiert das Abbild einer nie vollständig wahrnehmbaren Realität. Die Realität ist somit nur eine Erinnerung an die Realität. Fotos, so deshalb meine These, sind inszenierte Reproduktionen einer artifiziellen Realität, die sich der Wahrnehmbarkeit entzieht: Fotos sind Reproduktionen ohne Originale.

Mit der stetigen Verbesserung leistungsfähiger Autofokussysteme, Serienbildfunktionen und  optimal korrigierter Objektive zu Beginn der 1990er Jahre hatte Fotografie bezüglich technischer Perfektionierung, Standardisierung und Automatisierung bereits ein Niveau erreicht, das mit der Fotopraxis von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die späten 1950er Jahre nicht mehr viel zu tun hatte. Der komplexe Aufbau, den Eadweard Muybridge für seine Fotosequenzen von rennenden Pferden konzeptuell und materiell zu bewältigen hatte, waren in den modernen Kameras mit den Möglichkeiten extrem kurzer Belichtungszeiten und internen Motoren bereits enthalten. Lichtstarke Objektive in Verbindung mit höchstempfindlichem Filmmaterial machten Nachtfotografie möglich und Autofokussysteme sorgten dafür, dass für den entscheidenden Augenblick das Motiv nicht einmal mehr scharf gestellt werden musste. Das tausendfach geteilte, Ansel Adams zugeschriebene Zitat, „you don't take a photograph, you make it” mag noch der Arbeitsweise von Puristen unter den Profis entsprechen, in der absoluten Mehrheit der Fotopraxis ist der professionelle Macher seit spätestens 40 Jahren zunehmend – und aus verständlichen Gründen – Flussers Funktionär gewichen.
Die technischen Verbesserungen reichten die Hersteller nach dem Top-Down-Prinzip sukzessive auch auf die Produktlinien der Amateur- und Hobby-Ebene weiter. Selbst Schnappschuss-Kompaktkameras der 1990er Jahre verfügten bald über zeitgemäße Objektive, ausgereifte Automatikfunktionen und ausreichend schnelle Autofokusfähigkeiten.

Es ist deshalb auch weniger ein Zufall, dass die Lomografie mit ihrem Konzept, ja Ideal der unperfekten Bilder zu einem Zeitpunkt ihren Markt fand, als die analoge Mittelformat- und Kleinbildfotografie zu Beginn der 1990er Jahre einen Höhepunkt an technischer Perfektion erreicht hatte.

Dämmerung der Dichotomien

Es war jene zunehmende Automatisierung der Fotografie, die den Siegeszug japanischer Fototechnik begründete. Das Selbstverständnis des Künstlers als Schöpfer und als Beherrscher seiner Werkzeuge, die keinen Platz für apparate- und technikbasierte Bildgenese bereithält, ist ein rein europäisch-westliches Selbstverständnis, das es in Japan nicht gibt.

Die Industrielle Revolution führte in Europa bekanntlich zu gesellschaftlichen Konflikten. Die meisten Vertreter der romantischen Bewegungen standen bei allen sonstigen Differenzen weitgehend geschlossen der fortschritts-, wissenschafts- und technikgläubigen Moderne ablehnend gegenüber. Ambivalenz und Evidenz der Maschinen zeigen sich beispielsweise in den Gemälden von William Turner oder Carl Blechen. Karl Philipp Moritz kritisiert um 1785 bei einer Allegorie der Gerechtigkeit, sie hielte „bloß maschinenmäßig das Schwert und die Waage“. In E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ ist die Maschinenfrau Olimpia eine Bedrohung, so wie ein Jahrhundert später die Maria in Fritz Langs Filmklassiker „Metropolis“.

In Japan dagegen, soviel ist sicher, wird man weder das Zitat von Moritz verstehen, noch das von Ansel Adams. Nach Jahrhunderten konsequenter Abschottung wurden seit 1868 die Errungenschaften der westlichen Nationen in kürzester Zeit nachgeholt und übernommen, ohne Revolten, ohne Aufstände, ohne antimodernistische Romantik. Ein wichtiger Grund für das entspannte Verhältnis zu moderner Technik war der bis heute in Japan vorherrschende Shintōismus, der auf einem neo-konfuzianistischem Rationalismus und Materialismus in Verbindung mit den Traditionen eines paganen Animismus beruht und auch unbelebten Gegenständen einen Geist oder eine Seele zubilligt. Maschinen, Roboter und Technik werden nicht als Bedrohung, sondern als gegebene, ja willkommene Bereicherungen des kulturellen Selbstverständnisses betrachtet. Das Tamagotchi, ein Elektronikspielzeug mit den Eigenschaften eines hilfsbedürftigen, biologischen Lebewesens, mag hier als Beispiel gelten.

Der japanische Staat unterstützte in den 1960er Jahren die Kameraindustrie mit Subventionen für damalige Großcomputer zur Berechnung von optischen Linsen. Außerdem integrierten die Hersteller etwas in die Kameras, was da nach Ansicht ihrer europäischen Wettbewerber nicht hineingehörte: Batterien, Kabel und Mikroelektronik, die aus den Fotokameras Teil- und Vollautomaten machte. Der Autofokus war jedoch keine japanische Innovation, sondern eine Erfindung der Firma Leitz in Wetzlar, die nach mehrjähriger Arbeit beschloss, diese Technik nicht einzusetzen. Man sah keinen Mehrwert für die eigenen Kundschaft, die bislang mit manuellem Fokussieren an den Leicas glücklich waren und von denen man sicher annahm, dass sie die Fremdbestimmung der Scharfstellung durch einen elektronisch gesteuerten Automatismus niemals akzeptieren oder gar nutzen würden. Leitz verkaufte die Lizenz an die Kooperationsfirma Minolta, die 1985 mit der Minolta 7000 AF die erste Spiegelreflexkamera mit einem Autofokussystem auf den Markt brachte, das seitdem aus nahezu keiner Kamera mehr wegzudenken war [1].

 

Nachdem sich die ursprüngliche, puristische Fotografie Ende der 1990er Jahre auf den professionellen Bereich reduziert hatte, läutete der Durchbruch der Digitalkameras ab der Jahrtausendwende das Ende eines weiteren, zentralen Merkmals der Fotografie ein: das physische Artefakt als Diapositiv, Film oder Originalabzug.

Das Kontrafaktische des Artefakts

Unter den Analogvertretern (auch bei mir) hielt sich noch lange die Überzeugung, ein Negativ oder Diapositiv sei mit dem Wesen der Fotografie viel enger verbunden, als die mittels Software umgerechneten Daten eines digitalen Sensors. Nun habe ich selbst an mehreren Stellen gezeigt, dass ein Digitalisat bereits im Moment seiner fotografischen Genese einer Interpretation entspricht, die dann auch noch mit entsprechenden Mitteln der Bildverarbeitung und Manipulation eine Unzahl weiterer Interpretationsgenesen durchlaufen kann. Der einzige Unterschied der Analogfotografie besteht jedoch nur darin, im Vorfeld einen bestimmten Film zu wählen. Egalitär ist diese Arbeit mit Filmmaterial jedoch nicht, die bewusste Entscheidung für einen Film und damit gegen alle anderen Möglichkeiten erfordert genaue Kenntnisse und damit ausreichend Erfahrung der Wirkung der jeweiligen Filme und des Verhaltens in der Entwicklung. Nur: die Verbundenheit zum Wesen der Fotografie ist damit nicht näher als die bewusste Antizipation eines bestimmten Lightroom-Presets oder -Workflows eines Digitalfotografen.
Hier lauert dennoch eine ständige Falle für Lomografen. Im Gegensatz zu professionellen Analogfotografen ist bei Lomo-Bildern im Nachhinein zumindest zweifelhaft, ob ein film- und kameraseitiger Effekt bewusst gewählt wurde, oder aus Zufall. Je nach Parameter der Bewertung hätten beide Formen der Entscheidung ihre Berechtigung. In der Lomografie ist man sich jedoch schnell in einem „Superkonzept“ gefangen, bei dem Fehler und Effekte erwünscht sind oder gar herbeigeführt werden und der Zufall das Bildergebnis maßgeblich beeinflusst. Die Bildgenese unterscheidet sich dann nicht mehr vom Smartphone, nur dass anstatt der digitalen Perfektion die Spuren einer vermeintlich typischen Analogfotografie sichtbar werden. Die Puristen und Renegaten mit alten Kameras, Objektiven oder Techniken, die Lomografen, ja die Renaissance der Polaroidfotografie (wie Fuji-Instamax) sind aber nicht Ausdruck einer reaktionären Gegenbewegung und noch seltener nostalgisch konnotiert. Es ist eher eine Gegenbewegung zu den perfekten Artefakten moderner Technik. Eines steht fest: wer ein technisch perfektes Foto anstrebt, kann sich darauf verlassen, dass heutige Vollautomatikkameras oder Smartphones besser wissen, welche Einstellungen vorzunehmen sind, als die Fotograf*innen selbst. „You press the button, we do the rest“ ist nicht mehr ein Marketing-Versprechen von Kodak, sondern die faktische Realität aktueller KI. Vermutlich wird es zukünftig weitere Symbiosen aus Smartphone- und Kameratechnik geben.

Es ist übrigens ein weit verbreiteter Mythos, dass das RAW-Format der Digitalkameras keinerlei KI beinhaltet. Die internen CPUs wandeln die Daten des Sensors nicht nur individuell und je nach System unterschiedlich um, bevor das RAW-Format ausgegeben wird, sie setzen die KI auch für die Systemobjektive ein und verweigern dabei sogar manuelle Einstellungen oder das Deaktivieren dieser intelligenten Lösungen. [2]

Es gibt vielleicht noch zwei weitere Gründe, warum die analoge Fotografie nie verschwand und stets ihre Nische besetzte, zunehmend von einer jungen Generation, die nicht mehr mit dieser Technik aufgewachsen ist. Ein Faktor ist sicher die haptische und optische Qualität eines hochwertigen analogen Abzugs, der mit Ausbelichtungen digitaler Dateien noch immer konkurrieren, beziehungsweise überlegen sein kann. Trotzdem halte ich diesen Faktor nicht für entscheidend.

 

Wichtiger erscheint mir, dass ein physisches und singuläres Artefakt der Fotografie mit den Attributen des Originalitätsbegriff in Verbindung gebracht werden kann. Es ist tatsächlich ein besonderes Erlebnis, ein Großformat-Diapositiv in die Hand zu nehmen und zu betrachten, es entspricht dem ästhetischen Erlebnis, die originale Handzeichnung eines Renaissance-Künstlers ungeschützt in Augenschein nehmen zu dürfen. Das besondere an diesem Erlebnis beruht auf dem Wissen über das jeweilige Werk und den Künstler, verbunden mit einer bewussten oder unbewussten, emotional aber immer aufgeladenen Erwartungshaltung. Das ästhetische Erlebnis wird somit nicht nur erfahren, sondern schon im Vorwege, noch in Abwesenheit des Werkes, antizipiert. Diese Form der aufgeladenen Erwartung auf ein Erlebnis, das sich von anderen Erlebnissen hervorhebt, ist nicht nur bekannt aus der Konsumgüterwerbung, sie gilt auch für Luxus- und für Kunstobjekte. Im Zeitalter des schnellen Digitalfotos mag der Aufwand zur Herstellung eines analogen Bildes nach historischen Techniken unverhältnismäßig hoch oder kostspielig sein. Das gilt auf einem niedrigschwelligen Niveau beispielsweise auch für die erfolgreiche Instamax von Fuji, die weder scharfe, noch günstige Fotos produziert.
Es ist aber gerade diese Unverhältnismäßigkeit, die wiederum eine außergewöhnliche, vielleicht sogar unverhältnismäßig starke Rezeption in Anspruch nehmen kann. Das analoge Artefakt erhält einen aufgeladenen Symbolcharakter, der umso relevanter erscheint, je einzigartiger und damit unnachahmlicher das Ergebnis ist und je weiter es von der Perfektion und den Attributen von Fotos abweicht, die der Norm gängiger Fotos entsprechen.

Es liegt mir fern, solche besonderen ästhetischen Erlebnisse zu belächeln oder gar zu kritisieren. Spätestens mit Beginn der Sesshaftigkeit des Menschen und der Herausbildung von hierarchischen Gesellschaftsstrukturen sind Artefakte mit einem aufgeladenen Symbolcharakter bekannt. Ich glaube deshalb, dass analogen Techniken mit dem Schwerpunkt auf singuläre Artefakte mit Werkcharakter weiterhin eine Rolle spielen werrden, mit zunehmendem Einfluss von KI-Algorithmen vielleicht sogar vermehrt, auch wenn am bisherigen Ende der digitalen Innovationskette nicht die große Digitalkamera mit perfekt korrigierten Objektiven steht, sondern eine Miniaturisierung der Fototechnik und ihre Integration in Smartphones.

 

Klar mag auch geworden sein, dass nicht nur auf Grund der technischen Gegebenheiten von der Fotografie keine Rede sein kann. Das galt vermutlich schon kurz nach der Erfindung selbst. Betrachtet man heute die Mittel, Ziele und Motivationen aller Bereiche der Fotografie, die vom privaten Schnappschuss bis zur Fotografie als Mittel der Kunst, von der Familienfeier bis zur inszenierten Photoshop-Komposition und vom Instagram-Album bis zur wandfüllenden Installation reicht, sollte man diese Parameter vielleicht dem Begriff Fotografie voranstellen und demgemäß von Erinnerungen mit Fotografien, Dokumentationen mit Fotografien oder Kunst mit Fotografien sprechen. Bezüglich der viel zitierten, allgegenwärtigen „Bilderflut“ bietet es sich auch an, differenzierter über Bilder mit Mitteln der Fotografie, Bilder mit Mitteln der digitalen Bildverarbeitung oder Bilder mit Mitteln der bildenden Kunst zu dikutieren.

Die Autonomie des Artefakts

Im Gegensatz zum Fotoapparat ist die Smartphone-Kamera tatsächlich das geworden, was dem Fotoapparat zugesprochen wurde: ein Kommunikationsmittel mit der Sprache der Bilder. Smartphones kann man demnach auch ein emanzipatorisches Potenzial zubilligen. Die Egalisierung im Gebrauch des Smartphones mit der unmittelbaren Verbreitung bedingt zudem eine komplette Verschiebung der Wertigkeit der Fotografie. Es geht weniger darum, dass das Private zunehmend ins Öffentliche drängt, diese Tatsache ist nur eine Folge des vom Artefakt befreiten und in seiner Verbreitung freien Digitalisats in einer digitalen Welt, also ein singulärer Effekt.
Primär wird das Private durch die automatisierte und standardisierte Smartphone-Fotografie professionalisiert. Die Grenzen zwischen dem privaten Schnappschuss, früher unmittelbar augenfällig, und der professionellen Fotografie verwischt zusehends, evident wird das in der Zeitleiste von Instagram. Privatheit kennzeichnet nicht mehr ein Subjekt außerhalb der Öffentlichkeit. Privat ist nur das, was nicht fotografiert und geteilt wird.

Das Digitalisat innerhalb einer zunehmend digitalen Bilderwelt, egal ob aus dem Smartphone, der professionellen Kamera oder dem Scanner, hat die Dichotomie zwischen Fakt und Artefakt aufgehoben und damit auch die vorher klar voneinander abgegrenzte Unterscheidung von Original und Nicht-Original. Es geht heute nicht mehr um Werke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, sondern um Reproduktionen im Zeitalter ihrer digitalen Kontingenz. Selbst ein Originalabzug oder der direkt belichtete Bildträger verlieren ihren Staus als Unikate, sobald von ihnen ein Digitalisat im Netz erscheint, das wiederum „nicht kein Unikat“ sein kann. Tausendfach geteilt und rezipiert, unterliegt die Wirkung dieses neuen Unikats wiederum einer Kontingenz durch unterschiedliche Bildschirme mit unterschiedlichen Farbwiedergaben in unterschiedlichem Umgebungslicht. Folge ich meiner These, handelt es sich dabei um digitale Reproduktionen der Reproduktion einer artifiziellen Realität.

 

Das Unikat bleibt als Werk ortsgebunden und damit außerhalb seines Standorts, ja vielleicht sogar außerhalb des Schaufensters in einer Straße, in der es in im Laden einer Fotografin oder eines Fotografen gezeigt wird, unbekannt. Es wird nicht rezipiert und ist innerhalb der längst digitalen Bildkultur nur latent vorhanden, ähnlich dem verborgenen Bild eines Negativs. Die digitale Reproduktion des Unikats ist mehr als eine Kopie oder gar ein Plagiat. Es erhält eine Existenzberechtigung als paralleles, eigenständiges Werk im digitalen Raum. Eine Dichotomie liegt hier nicht vor, der stets beschworene Gegensatz mit einer Überbewertung der Originalität eines Werkes ist als Konstrukt auf der Grundlage überkommener Begriffe aus prädigitaler Zeit nicht mehr zulässig. Möchte man mit bekannten Begriffen arbeiten, halte ich es für sinnvoller, von Pendants im digitalen Raum zu sprechen.

Es stimmt, dass die Produzenten intelligenter Kamerasysteme Fotografen zu Funktionären mutieren ließen, aber taten das nicht auch die Hersteller von Tubenölfarbe, fertig aufgespannten Leinwänden und gebrauchsfertigen Malmitteln? Immerhin schufen jene Künstlermaterialhersteller eine wichtige Voraussetzung für die Kunst seit dem Impressionismus. Mit großer Wahrscheinlichkeit lesen Sie diesen Text auf einem stationären oder mobilen Computersystem, Sie haben ihn genauso wenig aus einer Veröffentlichung in einem Copyshop vervielfältigen lassen, wie ich ihn nicht handschriftlich verfasst habe, um ihn anschließend in einer Setzerei oder einem Verlag drucken zu lassen.

Meine vorherigen Ausführungen zum Wesen der Fotografie mögen diejenigen verärgert haben, die noch immer von der Magie der Fotografie überzeugt sind, von einem Fakt als Abbild der Realität, vom Mythos des Künstlers oder dem Foto als Unikat. Betrachtet man jedoch das Foto als singuläres und damit eigenständiges Artefakt wie andere Bildwerke der analogen oder digitalen Bildkultur, befreit man es also von ihrem Ausgeliefertsein an eine wie auch immer geartete Realität oder Magie, dann, so mein Fazit, erlangen fotografische Bilder erst die Autonomie als menschliche Leistung, die ihnen unabhängig von den eingesetzten Werkzeugen zusteht – so wie jegliche andere Bildkunst vor, neben oder nach ihr. Die Wirklichkeit der Bilder ist immer eine artifizielle Wirklichkeit der Werkzeuge, mit der diese Bilder geschaffen werden.