E-Mail-Dialog mit Wolfgang Ullrich II


NP, 2.5.19
Es hilft bei Mühe nur, mit Mühe weiter Kästchen zu malen! Anbei ein schnelles Foto von gestern, das Licht ist heute auch nicht besser, aber die Lichtwellen der Tageslichtlampe machen ein Foto mit dem Smartphone unmöglich.

WU, 3.5.19
Danke für Deine Mail und für den ersten Einblick in das Mühe-Bild! Der Eindruck von Diesigkeit, der hier entsteht, ist ausgezeichnet. Und immer wieder erstaunlich, was für feine Nuancen Du hinbekommst. Und welche Übergänge dadurch entstehen.

 

NP, 12.5.19
Als ich neulich auf Twitter ein Foto der Farbpalette postete (der einzige Hinweis auf die Produktion des Birkenau-Motivs), habe ich beschlossen, die Palette, die ich täglich wechsle, auch in die Dokumentation des Mühe-Motivs aufzunehmen. Ich ärgerte mich nämlich, dass ich das nicht bei dem Birkenau-Bild von Beginn an tat. Das wird also ganz bewusst vor allem ein fotografisches Dokumentationswerk der Genese, das gleichrangig neben dem gemalten Werk als Endprodukt zu sehen ist. Ich weiß zwar nicht, ob es auch in der Rezeption so funktioniert, aber es spielt eine wichtige Rolle.
Meine Überlegungen gingen sogar so weit, dass ich mich selbst per Smartphone und/oder einer zweiten Digitalkamera beim Fotografieren des Mühe-Bildes mit der alten Contax-Kamera zeige. Vielleicht schräg von hinten, vielleicht auch eine Kamera direkt vor dem Bild, das mich frontal zeigt, und dann am besten mit einem noch zu überlegenden Mechanismus, dass ich mit einem Kabelauslöser, der schon bei der Contax vorhanden ist, auch diese anderen Kameras auslösen könnte. Ich würde dann sozusagen ein Foto von mir selbst als Künstler machen, der ein Gemäldeausschnitt fotografiert, ein Foto von mir als einem fotografierenden Selbst (sowas wie ein Dokumentations-Selfie) und ein Analogfoto des Gemäldeausschnitts.

 

WU, 17.5.19
Ich finde es großartig, dass Du immer noch weitere Parameter der Selbstdokumentation Deiner Arbeit entwickelst. Das impliziert ja auch die gesamte Ambivalenz von Transparenz - es geht also zugleich um (Selbst)kontrolle, Überwachung und um Sichtbarkeitsimperative. Zugleich suggeriert die umfassende Dokumentation, man könne erfassen, worin ein künstlerisches Werk besteht - und damit ist Dein Konzept noch in weiterer Dimension eine Kritik am Künstler- und Geniemythos. Stellen schon die Kästchen eine Ernüchterung für jedes Pinselschwingerpathos dar, so erst recht die Fotos und anderen Dokumente, die Du erstellst. Und das passt wiederum zu der Grundthese, dass ein Fotograf viel weniger für ‚seine‘ Fotos verantwortlich ist als diejenigen, die seinen Fotoapparat konstruiert und programmiert haben. Es ist toll, wie das immer wieder alles zusammengeht und zugleich immer noch schlüssiger wird.


NP, 4.6.19
Ich habe zwei Sony-Kameras, deren Displays in einen Selfie-Modus geklappt werden können. Wenn ich mich selbst beim Fotografieren aufnehme, ist das zur Bildkontrolle natürlich erheblich komfortabler als eine ständige Bildkontrolle im Nachhinein.
Ich weiß noch nicht genau, ob ich mit der Kamera vielleicht kurze Videos mache. Die Gleichzeitigkeit der Auslösung von Digitalkamera und analoger Contax-Kamera ist als Standfoto kaum möglich, zumindest nicht evident "beweisbar". Außerdem ist die ursprünglich angedachte Gleichzeitigkeit der Dokumentation jedes Kästchens schon jetzt konzeptuell gebrochen, da ich auch das Sucherfenster abfotografiere. Diese chronologischen Schritte einer Fotodokumentation ließen sich aber für jedes Kästchen in Videosequenzen einfangen, als Videodokumentation der Fotodokumentation. Es gäbe nach meiner derzeitigen konzeptuellen Vorstellung folgende Schritte mit einem "Werk" je Kästchen:
- Digitalfoto vom Sucherbild
- Analogfoto vom gemalten Kästchen
- Digitalfoto von der Palette (die sich ja partiell parallel zum entstehendes Gemälde verändert und sich gleichfalls für eine schrittweise Dokumentation eignet)
- Videodokumentation dieser Schritte
- Digitalfoto des gesamten Dokumentationsaufbaus, auf dem man dann auch die Videokamera sieht
Die entwickelten und eingescannten Negative aus der Contax werde ich als Kontaktabzüge eventuell nicht auf Papier, sondern auf druckbaren Transparentfolien abziehen, die dann wie große Schwarzweißdia-Positive präsentiert werden können. Hintergrund ist dabei auch die Wirkung der Ausschwitz-Paraphrase als projiziertes Dia, das immer noch die Latenz als Lichtbild zeigt, das als physisches Objekt ein Gegenlicht zur Sichtbarmachung benötigt. Es gibt zwar Diabetrachter, aber keine Abzugbetrachter. Das Licht des Monitors als Voraussetzung für Digitalisate steht für mich dazwischen, deren Wahrnehmung und Rezeption eher mit Abzügen auf Hochglanzpapier zu vergleichen ist.
Genese ist vermutlich mein eigentliches Thema als Bildkritik. Das war übrigens schon früher so, vermutlich hat mich deshalb auch Restaurierung und Maltechnik immer interessiert.


WU, 4.6.19
Das ist ja wirklich eine ganze Menge, wobei ich es sehe wie Du: Die Analyse der Genese ist eine Form der Bildkritik! Umso wichtiger ist jedoch, dass man von vornherein genau weiß, wie man die verschiedenen Formate an Dokumentationsmaterial letztlich präsentiert. Welche werden online verfügbar sein, welche nur im Rahmen einer Ausstellung, welche vielleicht gar nie? Da habe ich vielleicht auch nur den Überblick verloren, aber es wäre gut, das nochmal genau Format für Format zu bestimmen. Das Thema des Zeigens und Verbergens setzt sich ja auf der Ebene des Ausstellens/Publizierens fort.


NP, 10.6.19
Ja, ganz wichtig sind begleitende Prozesse rund um das Mühe-Motiv. Ich habe ein paar Tage darüber nachgedacht und stimme Dir absolut zu, dass es am besten wäre, von vornherein genau festzulegen und einzugrenzen, was am Ende wo und wie präsentiert wird, bzw. eben nicht gezeigt, sondern verborgen wird.
Der Aspekt der fotografischen Dokumentation einer Genese hat sich in meiner Arbeit konkret erst mit Deinem Opalka-Hinweis als Bestandteil der Bildkritik hinzugesellt und konzeptuell bei dem Mühe-Bild nahezu in eine Übererfüllung maximal möglicher Dokumentationsmittel gesteigert.
Deshalb der Konjunktiv in meinem Satz "dass es am besten wäre, von vornherein genau festzulegen und einzugrenzen": Ich glaube, ich kann eher damit leben, am Ende nur die Hälfte von dem zu zeigen, was ich gemacht habe, als zu denken "ach, hätte ich mal…"
Im Vergleich zu den gut 13.000 Kästchen bei den Siegerkunstbildern halten sich die 1.936 Kästchen beim Mühe-Bild in Grenzen, entsprechend sind auch im Nachhinein zu verwerfende "flankierende Maßnahmen" der Genese zu verschmerzen. Nach ersten Versuchen im Vorfeld, spätestens mit Beginn der Arbeit ist es dann aber so weit, wie Du schreibst: Dann sollte feststehen, was parallel, was im Anschluss und was in der Ausstellung zu sehen sein sollte. Was ich mir so konzeptuell ausgedacht habe, muss sich außerdem erst einmal im Arbeitsprozess beweisen, es kann gut sein, dass sich da noch einiges ändert oder gar verworfen werden muss.

WU, 13.6.19
Ich finde es gut, wenn Du beim Mühe-Projekt erstmal alle Varianten der Dokumentation gleichzeitig startest - und dann ggf. im weiteren Verlauf entscheidest, was wegfallen kann oder was seine Qualität gerade dadurch gewinnt, dass es zwar existiert, aber nicht gezeigt wird. Vermutlich wird sich die Situation des Malens deutlich verändern, wenn es von so viel anderen Bildprozessen begleitet und unterbrochen wird. Ich bin gespannt, wie Du die Arbeit dann selbst erlebst.


NP, 14.6.19
Ich hatte z.B. überlegt, ob ich mich selbst beim Malen abbilde, ich will den Malprozess aber als einen ganz intimen, handwerklichen Akt für mich behalten. Damit bleibt auch er versteckt und verborgen. Nicht als Mysterium, sondern als Statement, eben nicht das Offensichtlichste eines so beliebten wie wohlfeil-blöden "work in progress" als unbedeutendsten Bestandteil meiner Arbeit zu verbergen. "Dem Künstler über die Schulter schauen", entspricht den üblichen Erwartungen, allein deshalb will ich das nicht.
Ja, und ich bin ebenfalls gespannt, wie ich die Arbeit selbst erlebe, bei der der eigentliche Malprozess vollkommen in den Hintergrund rückt, hingegen die dokumentierte Dokumentation den eigentlich relevanten Raum der Bildkritik einnimmt. Wie beim verborgenen Malprozess spielt auch hier die nicht vorhandene Gleichzeitigkeit eine Rolle. Am Ende gibt es nicht nur ein fertiges Werk als klassisches Bild zu sehen, auch die Fotos und Videos entstehen nach dem Malprozess jedes Kästchens.
Vielleicht wäre noch ein tägliches Selfie interessant, in Anlehnung an Opalka.


NP, 23.7.19
Ich habe die letzten Tage dann doch noch sehr viel an Vorbereitung erledigt, das Ganze entwickelt sich zu einer Art Multimediaprojekt mit insgesamt 9 Kameras, drei für Filmsequenzen, drei für Digitalfotos und natürlich die analoge Contax. Da der kleine Atelierraum eingebunden ist, habe ich das Gursky-Bild nach oben gebracht und das Birkenau-Motiv vor den Blicken der Betrachter mit einem Blatt Zeichenpapier abgehängt. Etwas länger habe ich mit der "Klappe" beschäftigt, ein simples Stück Papier für jedes Kästchen in die Kamera zu halten, war mir zu profan, wenn schon Aurazerstörung, dann ordentlich ;-) Also habe ich ein simples Stecksystem mit dickem Papier ersonnen, das erstens ressourcenschonender ist, zweitens mehr hermacht. So kann ich auch die Palette später jedem Kästchen zuordnen, um nicht durcheinanderzukommen. Von Video hatte ich null Ahnung, nach ein paar Stunden YouTube-Tutorials nun immerhin ein ganz klein wenig, aber das wiederum ist mir egal. Da steht für mich die Idee im Vordergrund, alles selbst zu machen und trotzdem nicht in Erscheinung zu treten.
Anbei sende ich Dir ein paar Impressionen und ein Testfoto der Palette (noch mit Gursky-Farben Schwarz und Weiß) mit der Klappe. Ein Foto zeigt zwei Kameras auf einem Stativ, eines zeigt auf die Leinwand in extrem spitzen Winkel, dass man später nur meine Hand mit dem Pinsel sieht, der ein Kästchen (vermutlich nur eine kurze Sequenz) malt. Die andere Kamera ist auf die Contax gerichtet, dort sieht man dann ebenfalls nur meine Hand beim Betätigen des Auslösers und Weiterdrehen des Spulknopfes. Diese Videos mit den entsprechenden Geräuschen werden die einzigen mit Tonaufnahme sein.
Da das Bild vom Bild auch ein Bild werden kann, habe ich einen entsprechenden Aufbau gestaltet und kann dann immer noch entscheiden, wann, wie und welche Fotos ich wo zeigen will. Ich hatte vor Tagen schon die Idee, mit einer mobilen Kamera auf den Sucher der Contax zuzugehen, den Betrachter also digital teilhaben lasse an meinem Vorgehen beim Fotografieren auf Analogmaterial. Das habe ich dann auf den Aufbau selbst ausgeweitet und das Testvideo in zwei verschiedenen Fassungen auf meinem YouTube-Kanal hochgeladen. Einmal in Farbe, einmal in monochromen Tönen, die ungefähr die Anmutung des späteren Mühebildes haben.

Welches Video gefällt Dir besser bezüglich der Wahrnehmung des Inhalts? Ich tendiere zwar ein wenig zu monochrom, aber total sicher bin ich mir nicht, deshalb würde ich mich sehr über Deine Meinung freuen!

WU, 24.7.19
Eindeutig bin ich, was die Videos anbelangt, ebenfalls für die monochrome Version - sie passt gleichsam zur ‚corporate identity‘ des Mühe-Projekts. Auch das Stecksystem gefällt mir sehr gut, durch die jeweils auszutauschenden Zahlen wird bewusster, wie viele Kästchen - also Arbeitsschritte - es sind, man spürt besser den Verlauf, die Abfolge, als würde immer nur ein (neuer) Zettel mit einer einfachen Zahl vor die Kamera gehalten.
Mir scheint also, Du bist bestens vorbereitet. Nicht ganz einfach wird es sein, all die Stative ortsfest zu belassen und nichts durcheinanderzubringen.


NP, 24.7.19
Stimmt, monochrom ist eindeutig besser, danke für Deine Bestätigung! Ich habe das Ganze nun um einen Titel und Untertitel ergänzt, wobei ich noch lange über den Titel nachdachte.
Dein ganz wichtiger und völlig berechtigter Gedanke zur Anordnung der Stative hatte mich natürlich auch beschäftigt. Deshalb berührt ein Stativbein den Fuß der Tageslichtlampe an einer Stelle, die ich markiert habe. Ich bewege nämlich aus Platzgründen nicht die Staffelei, sondern die Lampe, je nach Beleuchtung der zu bemalenden Kästchenflächen. Das Stativ der hinteren Kamera liegt wiederum genau in der Flucht des vorderen Stativs und der Abstand wird durch das manuell zu fokussierende Objektiv bestimmt, dessen Fokusbereich ich mit einem Klebeband fixiert habe. Dadurch gibt es eine fixierte Tiefenschärfendistanz, die Feinausrichtung geht dann sehr schnell, da das Bild immer den gleichen Ausschnitt zeigen soll.
Natürlich wird es keine perfekten Kopien der Fotos und Videos geben, die sich nur anhand des gerade aktuellen Kästchens unterscheiden würden. Die kleinen, wahrnehmbaren Fehler korrespondieren aber mit den Fehlern der gemalten Kästchen. Diese subtilen, nicht so offenkundigen Differenzierungen sind mir sogar wichtig, weil sie das Gesamtprojekt immer noch als menschliche Arbeit wahrnehmbar machen sollen, die sich ganz bewusst von einer rein digitalen oder auch technisch perfekten Arbeit unterscheidet.

NP, 30.7.19
von mir nun eine Wasserstandsmeldung zum Projekt, es ist etwas technisch, soll Dir aber einen Einblick in den Projektalltag der letzten drei Tage geben, falls es Dich interessiert. Erst heute komme ich nämlich zur Generalprobe, natürlich gab es doch noch unerwartete "Lösungsanforderungen" angesichts der groß angelegten Inszenierung. ;-)
Passend zur Verfremdung des Originalbildes habe ich eine weitere Kamera dazwischengeschaltet, deren Monitorbild ich mit einer lichtstarken, aber mit vielen Objektivfehlern behafteten Linse abfotografieren wollte. Das gestaltete sich dann als ziemliche Fummelei, bis ich zufrieden war.
Spät am Abend hatte ich herausgefunden, dass meine bisherigen Versuche einfach daran gescheitert waren, dass die Testvideos, die ich aus iMovie exportierte und auf das Smartphone übertrug, dort erst verarbeitet werden mussten, und das dauert etwa 10 Minuten, vorher bekommt man das auch bei bestem Willen nicht bei Instagram hochgeladen. Ich habe nämlich ein zwei Tage altes Testvideo vom Smartphone direkt bei Instagram hochladen können: https://www.instagram.com/p/B0gwofcDtJz/

 

WU, 30.7.19
Der Film auf Instagram sieht super aus, das ist Dir nun also perfekt gelungen!
Es sieht also so aus, als könnte das erste Kästchen nun bald gemalt werden. Selbst ich bin schon ganz aufgeregt ;-)


NP, 31.7.19
Nun ist es aber vollbracht, nun auch wirklich, der vorsichtshalber ausgeführte Test mit einer Digitalkamera auf der Schiene brachte einwandfreie, scharfe Ergebnisse.
Während einer Zigarettenpause mit Überlegungen zur endgültigen Lösung erschien mir die Unmenge an Zeit allein für den Makroaufbau mit der alten Contax als völlig irre, wahnsinnig und vor allem anachronistisch. Aber war das wirklich anachronistisch? Analoges Fotografieren bedeutet(e) immer die Abwesenheit von Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit zwischen Konzeption und Ergebnis. Nur daraus ergab sich die Notwendigkeit einer vor allem technischen Professionalität im Sinne der standardisierten Routine, die das Abwägen und bewusste Kalkulieren aller Eventualitäten im Vorfeld beinhaltet, also immer die Parameter des Versagens zu dessen Vermeidung antizipieren musste.
Dagegen scheint mir nicht nur in der Fotografie die Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit das Kernmerkmal des Digitalzeitalters zu sein. Das Argument eines vermeintlichen Niedergangs von Fähigkeiten, Handwerk und Technik hat immer den kleinen Teufel des Kulturpessimismus auf der Schulter sitzen - von dem ich selbst bzgl. Maltechniken auch nicht frei bin, wie Du weißt. Was einige Profis mit ihren alten Techniken aber tatsächlich an den digitalen Welten beklagten, ist die fehlende Notwendigkeit komplexer Antizipation. Nicht, weil wir es können, sondern weil die Technik auch die Antizipation der Eventualitäten innerhalb der Werkprozessen standardisiert und damit übernimmt.
Das Versagen als Anachronismus wiederum ist, so glaube ich, auch deshalb der Grund, warum nicht wenige junge Menschen die Analogfotografie für sich neu entdecken. Das hat nichts mit Hipster- oder Nostalgie-Mentalität zu tun, sondern mit Grenzerfahrungen des Nicht-Antizipierbaren fehlender Unmittelbarkeit, die die Digitalwelt nicht mehr bietet. Es ist gleichsam ein Spiel mit sich selbst, wobei das eigene, menschliche, nichtdigitale Selbst im spielerischen Versagen genauso wahrnehmbar ist wie im spielerischen Erfolg.


WU, 31.7.19
Das sind phantastische Überlegungen, auf die Du gekommen bist. Was es bedeutet, in der digitalen, ‚verappten‘ Welt viel weniger antizipieren zu müssen. Ich habe selbst noch nie darüber nachgedacht. Es verkürzt ganz gewiss den Zeithorizont, in dem die Menschen leben, verdichtet die Gegenwart, nimmt aber die Chance, gleichsam gedehnter zu leben, gedanklich gleichzeitig in verschiedenen Stadien eines Prozesses zu sein. Der Meister der Antizipation ist ja der Schachspieler, doch seine Fähigkeiten werden heute kaum noch benötigt. Und Schachcomputer waren mit die ersten Errungenschaften der Digitaltechnik, d.h. in ihr ging es von Anfang an ganz stark darum, Antizipation besser zu leisten, als ein Mensch es kann. Bei der Bildproduktion geht es natürlich um andere Formen von Antizipation, aber immer geht es darum, aufgrund der digital möglichen Schnelligkeit so etwas wie Zukunft gar nicht mehr zuzulassen. Die Veränderung der Zeitwahrnehmung ist gewaltig! Und umso interessanter ist einmal mehr Dein Konzept. Auch unabhängig vom Element analoger Fotografie. Dass Du die Kästchen einzeln malst, dehnt die Zeit extrem, die leere Fläche der Leinwand verheißt eine große Menge an Zukunft, die es bei einer digitalen Produktion nicht gäbe. Man sieht normalerweise immer nur den Faktor der Zeitersparnis, aber genauso wichtig wäre es, den Faktor der Horizontverkürzung zu reflektieren, den digitale Verfahren bedeuten.


NP, 31.7.19
Danke für Deine weiterführenden Gedanken dazu!
"Die Dehnung der Zeit", wunderbar, das ist tatsächlich ein ganz, ganz wichtiger Aspekt meiner Arbeitsweise in der Auseinandersetzung mit Bildern!


NP, 31.7.19
Hier hat die Generalprobe zum Mühebild nach einigen Feinheiten der Choreografie gut geklappt, anbei mal mein Laienspielgruppenskript der Abfolge. Morgen werde ich mal die Zeit stoppen, die ein Kästchen benötigt, gleich übertrage ich noch die Dateien der Speicherkarten aus den 9 Kameras auf den Rechner.
1.    a5100 Pink ON
2.    Klappe ins Bild
3.    Video: Malen
4.    Kamera OFF
5.    Klappe auf Palette
6.    Nex-6 Sigma30 ON
7.    Foto: Palette
8.    Kamera OFF
9.    Contax aufstellen
10.    a5100 Gelb ON
11.    Klappe ins Bild
12.    Video: Analogfoto Drahtauslöser + Film weiterspulen
13.    Kamera OFF
14.    Nex-6 Focotar ON
15.    Foto: Sucherbild
16.    Kamera OFF
17.    a6000: ON
18.    Foto: Bildausschnitt mit Kamera
19.    Nex-5N: ON
20.    Foto: Aufbau
21.    Wiedergabe des Fotos
22.    a5100 Orange ON
23.    Foto: Monitorbild Nex-5N
24.    a5100 Steadycam ON: 36mm
25.    Video: a5100 Orange bis Contax
26.    Video: Zoom Sucherbild
27.    Alle Kameras OFF

 

WU, 1.8.19
Das Skript ist eindrucksvoll! Unglaublich, wie viele Schritte das Kästchen für Kästchen sind, das war mir nicht bewusst. Das dürfte ohne Beispiel sein in der Geschichte der Bilder! Und ich bin so gespannt, wie es Dir während des Werkprozesses ergehen wird.


NP, 2.8.19
Am Ende des zweiten Tages wird hier mit den ersten Fehlern doch klar, dass ich mir und dem Projekt angesichts der Komplexität doch eventuell zu viel zugemutet habe, was natürlich sehr frustrierend war. Ausgerechnet bei den Fotos des Sucherbildes der Contax, die ich bei Instagram zeigen wollte und die neben den Analogfotos eigentlich den ganzen Prozess am besten dokumentieren, habe ich bei 8 Kästchen schon zwei vergessen. Die auf 30 Arbeitsschritte angewachsene Liste des Skriptes ist offensichtlich zu umfangreich. Da reicht eine kurze private Störung, ein Anruf oder andere Kleinigkeiten, schon ist die Gefahr der Dokumentationslücke da.
Jetzt habe ich beschlossen, die Kunstautonomie zu meinem Verbündeten zu machen. Wenn Fehler unweigerlich passieren, kann und sollte ich das nicht ändern, sondern sie als Teil des Konzeptes betrachten, das dadurch wieder neue Möglichkeiten bietet. Ich muss nicht jede Einstellung für jedes Kästchen wiederholen und auch nicht alle Einstellungen und Abfolgen in derselben Art und Weise reproduzieren. Stattdessen werde ich das Element des Spiels in die Dokumentation bringen. Jedes Kästchen wird dokumentiert, aber neben den fürs Projekt zwingenden Analogfotos mit der Contax werde ich nur noch (Stand jetzt) die Videos vom Abfotografieren und vom Malprozess der Kästchen beibehalten. Aber vielleicht nicht einmal diese Videos. Vielleicht spiele ich auch da mit anderen Objektiven, Brennweiten, Ausschnitten. Ich weiß zwar selbst noch nicht, was mir da alles einfällt, aber ich habe neben genug zusätzlichen Kameras und Objektiven genug Ideen.
Du darfst also gespannt sein, was es neben den sorgfältig schrittweise angefertigten Analogfotos sonst noch geben wird. Ich befürchte zwar ein Chaos an Bildwelten, aber dieses Chaos als Spiel bekommt gerade einen sehr großen Reiz ;-)


WU, 3.8.19
Ich finde das, was Dir am zweiten Tag passiert ist, überhaupt nicht schlimm oder gar misserfolgshaft. Ideen müssen sich immer in der Praxis bewähren oder modifizieren - so auch hier. Wäre es nur darum gegangen, ein Programm zu schreiben, das dann von einem Gerät ausgeführt wird, wärst Du bereits fertig gewesen mit der Arbeit. Aber Du hast Dich ja bewusst für die analog-händische Ausführung entschieden. Und da ist ja gerade interessant, welche Grenzen sichtbar werden. Und was aller Antizipation zum Trotz nicht einfach umzusetzen ist.
Deine Entscheidung ist auf jeden Fall genau die richtige! Ich finde es sehr gut, wenn nun noch ein flexibles Element in das Projekt kommt und es offen für spontane Wechsel und Varianten ist. Das „Chaos an Bildwelten“ wird der Arbeit eine zusätzliche Dimension geben, Du wirst dem Thema der Rolle von Bildern in der heutigen Welt damit umso besser gerecht. Wann und wie entstehen sie? Was bewirken sie? Wo ist ihr Ort? Auf all diese Fragen liefert Dein Projekt starke Antworten.
Also: Lasse Dich bitte nicht entmutigen! Sei stolz darauf, dass Du wirklich bis an die Grenzen gegangen bist - und nun, dort angelangt, programmatisch-konzeptuell noch weiter gelangst!


NP, 3.8.19
Vielen Dank für Deinen Zuspruch!
Ich lasse mich zum Glück nicht so schnell entmutigen, und Fälle der unmittelbaren Einsicht einer unlösbaren Strategie sind bei mir selten. Dass das hier nicht so ganz geklappt hat, liegt auch an der fehlenden Routine, das ist ja etwas völlig Neues und in diesem Umfang zumindest mir nicht bekannt Vorhandenes, auf das ich hätte aufbauen können.
Ganz neu ist die Idee des Vorgehen nicht, es lag nahe, orientiert es sich doch am geplanten Konzept für die Wagner-Fotoreihe mit meiner Objektivsammlung, für das ich umgekehrt einzelne Ideen des Mühe-Projekts übernehmen wollte. Ich bin also sehr guter Dinge.


WU, 4.8.19
Sehr gut, lieber Nils, es freut mich, dass Du die kurze - und sicher notwendige - Krise überwunden hast und nun auch die Vorteile des modifizierten Konzepts als solche anerkennen kannst! Dass Deine Objektivsammlung nun zum umfassenden Einsatz kommt, ist ein wichtiger neuer Aspekt, gerade was die Reflexion von Bildgebung anbelangt, die ja das gesamte Projekt ausmacht. Didi-Hubermans Buch über die Auschwitz-Fotos heißt ja „Bilder trotz allem“ - und Dein Projekt macht das über das konkrete Sujet hinaus zum Thema. Im Vergleich der mit verschiedenen Objektiven gemachten Bilder wird man deren Bedingtheit noch besser begreifen als andererseits schon durch die Verpixelung.


NP, 4.8.19
Ich habe gestern und heute zu den bereits 9 bestehenden noch weitere Kameras aktiviert und für jede ein passendes Objektiv gewählt, die habe ich mal aufgereiht, anbei. Alle 17 Modelle passten nicht aufs Bild ;-) Die werden natürlich nicht alle je Kästchen/Arbeitsschritt zum Einsatz kommen, ich greife mir spontan ein oder zwei Exemplare und mache einfach Fotos innerhalb des Ateliers von der Gesamtsituation: Impressionen, Details und Makroaufnahmen vom festen Dokumentationsequipment. Vermutlich aktiver als am Anfang wird dabei die "Klappe" zum Einsatz kommen.
Was bleiben soll, sind je Kästchen die Videoaufnahme des Malprozesses, die Videoaufnahme des Auslösens und Weiterspulens der alten Contax-Kamera und ein Foto von der Malpalette. Alles andere ergibt sich frei.

WU, 4.8.19
Ich finde das neue Konzept nun ganz phantastisch! Die Mischung von festen und flexiblen Bestandteilen des Bildprogramms verheißt maximale Reflexionsmasse und damit auch Erkenntnis.


NP, 10.8.19
Die erste Reihe steht, also 44 Kästchen. Doch anstatt mich zu grämen, dass das auf den ersten Blick nicht so viel ist, bin ich angesichts der parallel entstandenen Fotos und Videos doch zufrieden.
Der Malprozess selbst (außerhalb des Anmischens des Farbtons) dauert eigentlich nur eine Minute, die restlichen 30 Minuten pro Kästchen werden dann für die Dokumentation in Anspruch genommen.
Für die erste Reihe gibt es nur aus diesen Kameras ca. 300 Fotos. Dazu dann noch: 132 Videos von Malprozess, von der Fotoauslösung mit der Contax und von einem Schwenk des Aufbaus. Die anderen Kameras aus der Ordnerstruktur ergeben nochmal 264 Fotos.
Insgesamt also rund 550 Fotos und 132 Videos für 44 Kästchen.
Jetzt stehe ich natürlich vor der Aufgabe, die ganze Masse an Daten zu verarbeiten, obwohl die Speicherkarten noch nicht einmal zu einem Fünftel belegt sind. Gestern Abend habe ich deshalb beschlossen, alle Fotos und Videos pro Kästchenreihe zunächst abzuspeichern. Ich kann dann bestimmen, wann ich welche Fotos und Videos wo veröffentliche.


WU, 10.8.19
Wow - das ist ein eindrucksvolles Verhältnis - 1:30 zwischen Mal- und Dokumentationszeit. Post- und Paraproduktion sind hier eindeutig und so sichtbar wie noch nie zur Hauptsache geworden - das allein macht Dein Projekt zu einem Denk-mal! Und dürfte, wird das mal öffentlich, zu vielen Debatten Anlass geben, in denen es um den Status der einzelnen Bilder und Videos gehen wird, um ihr Verhältnis untereinander, um Rangordnungen und die Frage, was nun ‚eigentlich‘ das Werk ist. Diese Themen mögen alle für sich nicht neu sein, aber niemand hat sie so radikal zur Debatte gestellt wie Du mit Deinem Projekt!
Mittlerweile finde ich es umso besser, dass Du nicht parallel zur Entstehung schon Material postest. Damit wäre die Abhängigkeit der dokumentierenden Bilder gegenüber dem gemalten Bild zu eng, sie stünden wirklich nur im Dienst der Dokumentation. Indem Du erst später entscheidest, was Du mit dem Material machst, hast Du ganz andere Freiheiten, ja kannst daraus neue Formen von Werk, von Publikation, von Prozess entwickeln. Und das unschätzbar wertvoll.
Ich staune, was Du auch technisch immer wieder und nach wie vor für Herausforderungen bestehen musst. All der Speicherplatz allein… Und das Sichern, Konvertieren etc. der Dateien. Aber es ist auch wichtig, überall wirklich bis an die Grenzen zu gehen - an die der menschlichen Konzentrationsfähigkeit genauso wie an die der technischen Leistungsfähigkeit.


NP, 10.8.19
Du hast das ganze sogar ins Verhältnis gesetzt, so hatte ich das noch gar nicht gemacht. So gesehen, ist 1:30 wirklich eine ziemlich große Angelegenheit, auch wenn ich das etwas reduzieren will.
Großartig vor allem, was Du über die Abhängigkeit und Freiheit der dokumentierenden Bilder zum gemalten Bild schreibst!


NP, 14.8.19
Nach etwa 8 oder 10 Fotos der zweiten Reihe hörte sich die Contax plötzlich "nicht mehr gut an". Der senkrechte Lamellenverschluss brauchte gefühlt plötzlich viel länger und es gab einen kleinen Widerstand beim Weitertransport des Films. Nach 18 Kästchen war der Film dann voll, und beim Öffnen erkannte ich dann, dass der Transportmechanismus des aus zwei Teilen bestehenden Lamellenverschlusses gerissen sein musste. Ich wusste, dass das ein Hauptproblem des Contax-Systems war, da entsteht ein unglaublich hoher Druck beim Aufziehen des Verschlusses, die 80 Jahre alten Bänder bestehen außerdem aus Seide. Da das Licht durch das Objektiv ununterbrochen in die dunkle Kammer der Kamera eindringen konnte, ist der Film vermutlich komplett verloren.
Das hat mich überhaupt nicht geschockt, es ist ein Teil des bewussten Kontrollverlustes, der die Möglichkeit des ständigen Scheiterns einzelner Abläufe oder Projektbestandteile einschließt. Da ich lediglich die extra gekauften Analogfilme und das alte Carl-Zeiss-Objektiv aus Jena mit der Makro-Vorsatzlinse weiterverwenden will, habe ich zunächst versucht, das ganze an eine Minolta-Kamera zu adaptieren, das klappte aber nicht wie gewollt. Dann fiel mir ein, dass ich auch noch "Kiev-Kameras" habe. Im Zuge der Reparationszahlungen hatten die Sowjets nach dem Krieg die gesamte Fertigungslinie der Contax-Produktion aus der Dresdner Innenstadt nach Kiew verlagert. Diese 1:1-Contax-Kopien nannten die Sowjets dann entsprechend dem neuen Fertigungsstandort in der Ukraine "Kiev", so dass mein Vorkriegs-Zeiss auch an die Kievs aus den 1960er Jahren passt. Nun kann ich also weiter analog mit dem Vorkriegs-Zeiss inkl. Makro-Vorsatzlinse fotografieren und ebenfalls weiterhin das Sucherbild abfotografieren.
Da die Contax von 1940/42 ein wichtiges Element meines Projekts darstellt, reichte es mir dann natürlich doch nicht, sie einfach nur abzufotografieren.
Während das Zeiss-Objektiv nun vor einer Contax-Kopie steckt, habe ich die zur Kiev gehörende, sowjetische Kopie des Zeiss Sonnars an die geöffnete Contax befestigt, ist ja alles kompatibel. Anschließend habe ich den Lamellenverschluss halb aufgezogen, der wie ein Vorhang den Blick auf das vom Objektiv wiedergegebene (auf Grund der Optikgesetze auf dem Kopf stehende) Abbild wiedergibt.
Dann habe ich mit einem Makro von hinten durch die Kamera fotografiert, als Testobjekt hier die Malvorlage auf der Feldstaffelei.

(Nur am Rande: das ist nicht direkt fotografiert, vielmehr ist die Malvorlage eine Spiegelung, der Kamera-Aufbau ist hier auf dem Schreibtisch, die Feldstaffelei steht ganz woanders. Ich habe einfach das ausgeschaltete Smartphone so platziert, dass die Spiegelung des Atelierraumes genau die Feldstaffelei wiedergab.)
Jetzt überlege ich, wie ich einen simplen Aufbau realisiere, um die Kästchen des Mühebildes selbst oder das Display einer Kamera abfotografiere, ich glaube, das wäre der Bedeutung der Contax in meinem Projekt angemessen.

WU, 14.8.19
Als ich Deine erste Mail las, dachte ich gleich, ich müsse Dich dazu ermuntern, noch mehr Bilder der Apparate zu machen, die Du verwendest - und es gerade auch zu dokumentieren, wenn sie nicht funktionieren, weil sie eben zum Teil schon so alt sind. Und mit Deiner zweiten Mail übererfüllst Du den Vorschlag, den ich machen wollte, gleich ganz großartig! Was ist das wieder für eine kluge Idee, was für eine raffinierte Umsetzung - auch wenn wohl niemand von alleine darauf käme, wie ein solches Foto entstanden ist. Aber dass Du alle Möglichkeiten der Bildgenese - inklusive Spiegelung etc. - nutzt, macht das Projekt so gewaltig. In ihm wird so viel an Foto- und Mediengeschichte präsent. Gegenüber dem Erstimpuls - einer Kritik an Mühe - ist das natürlich noch viel mehr, und ich bin gespannt, wie sich die verschiedenen Dimensionen und Intentionen zueinander konstellieren, wenn das Projekt weiter fortgeschritten ist und wenn es (nach und nach) auch öffentlich gemacht wird. Da ist ja noch sehr vieles denkbar!


NP, 14.8.19
Du hast recht, die Fotoapparate als Mittel der Bildgenese sind ein ganz wichtiger Bestandteil, viel mehr als bloße Mittel zum Zweck! Die Spiegelung im Smartphone-Monitor - zumal im ausgeschalteten Modus - erschien mir auch als interessant, auch wenn es tatsächlich nicht erkennbar ist, ich erinnerte mich sofort an die Theorien Hockneys zu den "Geheimnissen" der Renaissance-Kunst bezüglich der Verwendung von Spiegeln und anderen optischen Hilfsmitteln, also Apparaten. Ich habe auch gleich versucht, die Anordnung auf dem Schreibtisch so aufzubauen, dass die Spiegelung schräg von unten die Bildfläche zeigt. Das ist in der Flucht des Stativs mit den Videokameras, das man deshalb auch sieht, ebenso einen Teil der Tageslichtlampe. Dazu noch ein Foto des Aufbaus. So komme ich mir selbst auch nicht in Quere. Ich überlegte zunächst, das ebenfalls als Videoclip aufzunehmen, aber da gibt es ja schon die Aufnahme vom Stativ aus. Stattdessen werde ich die Kamera mit einem Smartphone fernsteuern und per Selbstauslöser mit 10 sec. ein Foto schießen, während ich die Farbe auftrage. Es stimmt, bei jedem Kästchen kommt etwas Neues, Unvorhergesehenes und Ungeplantes hinzu, flankiert von kleinen und größeren Katastrophen, die sich als Türen für neue Möglichkeiten erweisen.

NP, 15.8.19
Und um Dein Mail-Postfach endgültig zuzumüllen, lieber Wolfgang, hier nun noch das finale Testbild mit meiner malenden Hand. Es sieht tatsächlich so aus, als sei das ein Foto von einem Smartphone-Bild, nicht eine Spiegelung.

WU, 15.8.19

Mir scheint, als kämen nun immer mehr Deiner schon lang gehegten, oft kaum zur Geltung gebrachten Interessen und Fähigkeiten zum Ausdruck. All die Anordnungen der Fotoapparate, die Verschränkungen analoger und digitaler Techniken, das Tüfteln an Details und an innovativen Lösungen - das sind Seiten von Dir, die getrennt voneinander sicher schon immer wieder mal eine Rolle spielten, die sich nun aber gemeinsam verwirklichen lassen. Und das ist ganz großartig! Allein die Smartphone-Spiegelung im Objektiv ist eine so tolle Angelegenheit! Dekonstruktion durch Überbietung - so könnte man Dein Projekt auch nennen.

 

NP, 15.8.19

Es stimmt tatsächlich, dass ich mich hier in dem Projekt regelrecht austobe und nahezu alles auslote, was mich stets begeistert und interessiert hat. Selbst ich hätte vor zwei Wochen nicht daran gedacht, was sich bereits jetzt und nach nur zwei Dutzend Kästchen aus dem Projekt entwickelt hat, es verhält sich fast wie ein Organismus, der sich an verändernde Gegebenheiten immer wieder anpasst.

 

WU, 16.8.19

Auch das ein sehr schönes Bild: Dein Projekt als ein Organismus, dessen Entwicklung nie genau vorhersehbar ist. Und der sich immer wieder anpasst.

 

NP, 25.8.19

Anbei als kurzer Gruß zwei kleinformatige digitale Kontaktabzüge der dritten Reihe (im Moment bin ich bei Kästchen 11 der vierten Reihe), die zeigen allerdings nur die Anfangs-Standbilder der Videoclips und die Fotos mit den Spiegelungen. Die gefühlt 2000 anderen Fotos aus den Kameras sind NICHT dabei ;-)

WU, 25.8.19
Danke für die Kontaktabzüge! Es ist gut, so viele Bilder auf einmal zu sehen, um ein Gespür für die Menge zu bekommen. Die pure Quantität sorgt für Effekte abstrahierenden Sehens, zugleich fängt man an, sich in Detailunterschiede zwischen benachbarten Bildern zu vertiefen und so ihre Machart, aber natürlich auch das dokumentierte Geschehen zu rekonstruieren.


NP, 26.8.19
Es ist ja schon ein gewollter Irrsinn, was ich da anstelle. Umso schöner ist dann Deine Einschätzung und Analyse. Die "Dekonstruktion durch Überbietung", wie Du mein Projekt so wunderbar beschrieben hast, beinhaltet auch das Offenlegen der Dekonstruktion. Rezipiert und bewertet wird in der Regel immer nur das letzte Glied einer Kette.


WU, 28.8.19
Vielen Dank für das PDF, das ich nun schon mehrfach studiert habe! Großartig, die verschiedenen Bildtypen geordnet nacheinander anschauen zu können. Derselbe Werkprozess erscheint so aus jeweils anderer Perspektive, erschließt sich manchmal unmittelbar, manchmal nur über Ecken. Auf jeden Fall erziehst Du den Betrachter zu einem detektivischen Blick, will man doch möglichst genau verstehen, was man jeweils sieht, warum es aufgenommen wurde, was es über das Gesamtprojekt verrät. Ich stelle mir gerade vor, wie am Schluss das gemalte Bild alleine auf einer großen Wand hängt, während die drei anderen Wände des Raumes übervoll mit all den Fotos der Dokumentation bestückt sind. Oder man hängt das Gemälde einfach dazwischen, um die Hierarchie zwischen ihm und den anderen Bildern aufzuheben? Vielleicht wäre das die dem Projekt angemessenere Art der Präsentation. Denkbar wäre schließlich sogar, nur die Fotos zu zeigen, das Gemälde selbst hingegen nicht. Oder in einem anderen Raum, in Verbindung mit anderen gemalten Bildern.


NP, 29.8.19
Die visuelle Gegenüberstellung vom Gemälde und den Fotos/Videos hatte ich genau wie Du auch schon überlegt. Erstaunlich, dass die Antizipation der Rezeption schon in der Anfangsphase von Projekten wie ein instinktiver Automatismus funktioniert, oder? Mich würde interessieren, ob das nur bei stark konzeptuellen Arbeiten so ist oder grundsätzlich.
Ansonsten habe ich das Gefühl, dass sich das Werk verselbstständigt. Die vierte Reihe mit allen begleitenden Arbeiten habe ich gestern Abend fertiggestellt, allerdings sind diese "begleitenden Arbeiten" einer immer größer werdenden Flexibilität innerhalb bestimmter Konstanten (Klappe, Fotos von der Palette, Gesamtansichten, Anzahl der Kameras) unterworfen. Mühe nahm sich ja auch die Freiheit der Aneignung und Paraphrase verschiedener Bildgattungen und Vorstellungen, ja Instrumentalisierungen falscher Bilder (in doppeltem Sinne) von Romantik, Sehnsucht und Deutschtum, was in meinen Augen viel gefährlicher ist als die inhaltlich harmlosen Bilder eines erklärten Opferrechten wie Axel Krause. Ich habe vor, es laufen zu lassen.


WU, 4.9.19
Es ist so schön, dass Dein Projekt, je weiter es voranschreitet, desto freier in seiner Form wird. Das wird sich dann ja auch bei allen Dokumentationen zeigen, welche Dynamik sich da entwickelt hat. Und in der Summe ist es nochmal eine Art von Metakritik an Mühe, führst Du doch exemplarisch vor, was es heißen kann, Bilder reflektiert zu machen, indem sie immer wieder mit anderen Bildern kommentiert, überbietet, dokumentiert etc. werden. Du machst vor, was es heißt, blinde Flecke zu überwinden!


NP, 5.9.19
Ich komme hier ganz gut voran und habe auch meinen Frieden damit gefunden, dass alles länger dauert. Die fünfte Reihe ist fertig, neben den 220 Kästchen sind eben auch gut 6000 Fotos und 700 Videoclips entstanden. Ich bleibe erstmal bei der fotografischen und filmischen Begleitung.
Bei ebay habe ich mir noch ein paar uralte Kameras aus den Urzeiten der Digitalfotografie für kleine zweistellige Beträge ersteigert, 2- und 3-Megapixel-Kameras, die Einschränkungen interessieren mich dabei.


NP, 12.9.19
Bei mir kamen nur einige Kleinigkeiten dazwischen, ich musste den Projektablauf doch noch etwas optimieren und die etwas abseits stehenden Videokameras per gekauften Adaptern mit Dauerstrom versorgen, um nicht ständig um die Stative zu tänzeln, um die Kameras ein- und auszuschalten. Jede "Optimierung" beinhaltet aber zuerst neue Herausforderungen, die man ohne die Optimierung nicht hatte, weil bspw. die Kabel unten aus den Batterieschächten hängen, obwohl die Kamera auf dem Tisch stehen oder auf Schienen befestigt sind. Also kleine Ärgernisse, die irgendwie gelöst werden mussten, kurzfristige Zeitfresser. Die sechste Reihe ist fast fertig.


NP, 27.9.19
Je weiter ich voranschreite, umso mehr werden die Arbeitsschritte im Sinne neuer Ideen ausgefallener als auch angepasster bzw. standardisierter, was die Anforderungen an Effizienz und Angemessenheit angeht. Es ist also immer mehr ein freies Spiel in immer enger werdenden Grenzziehungen. Eine für mich nicht vorhersehbare oder gar geplante Entwicklung. Meistens gibt es Änderungen beim Aufbau und dem Vorgehen nach Fertigstellung einer Kästchenreihe. Jetzt steht ein Aufbau, der beim Start einer neuen Reihe ein Standard bis zum Schluss der Arbeit bilden könnte. Im Laufe des Prozesses stellt sich dann durch Versuch und Irrtum immer weiter heraus, was funktioniert und was nicht.
Im Grunde spiegelt dieses Vorgehen damit alle langfristigen kreativen Prozesse wider und widerlegt auch meinen eigenen Vorstellungen von einer möglichen Antizipation aller geplanten Prozessschritte. Ja, vielleicht ist diese Erkenntnis aus dem gewaltigen Aufwand auch auf die Rezeption anzuwenden. Muss sich nicht jede Kreation, auch die von Mühe, damit auseinandersetzen und antizipieren, was das Werk in der Wahrnehmung des Betrachters auslöst? Hier bieten nicht die Konventionen des Vorgehens bewährte und damit sicheren Grenzen der Pfade, auf der sich die Kunst bewegen kann, wohl aber Konventionen aus Material, Technik, Inhalt und Bildsprache. Die Wohlfeilheit im Gebrauch falscher und heute brandgefährlich gewordener Bildsprachen, die ich Mühe anlaste, ist somit auch eine Kritik an seiner absichtlich unterlassenen Auseinandersetzung mit den phänomenologischen Zwängen seines Werkes: Er liefert die Rezipienten mit ihren Wahrnehmungen seinem Werk aus, mit voller Absicht und mit den Mitteln subtiler Assoziationen, die dann eben für mich die dunkelste Tradition einer oktroyierten Interpretation bedeuteten, nämlich das ahistorische Narrativ einer völkisch und nationalistisch getragenen Romantik. Mühe, das ist der eigentliche Vorwurf, wusste das genau und er spielte damit, er nahm diese falsche Deutung ebenso billigend in Kauf wie der Beifall von der falschen Seite, den er – im Gegensatz zu Friedrich hätte eindeutig vermeiden, ja verhindern können.
Die „Dekonstruktion“ seines Werkes, von der Du angesichts meines Vorgehens so treffend sprachst, beinhaltet aber nicht die Festlegung auf eine singuläre Gegenposition in Form nur eines komplementären Werkes. Zur gemalten Gegenüberstellung als inhaltlicher Bildkritik kommen noch die mit nahezu unsinnigem Aufwand betriebenen Bildgenesen dazu, die sich wie eine Fotoreihe aus Mühes Foto ergeben. Es gibt am Ende nicht ein, nicht zehn, es gibt Tausende von Alternativwerken, die aus dem Prozess der Beschäftigung direkt oder indirekt oder auch nur entfernt aus Mühes Interpretation des Kreidefelsens entstehen.
Was Du als Metaebene der Bildkritik erkanntest, bereitete mir anfangs Probleme, da der Prozess mit seinen vielen Bildgenesen plötzlich ein Eigenleben zu führen begann und sich dadurch vom eigentlichen Thema um Mühes Kreidefelsen zu entfernen schien. Mittlerweile bin ich froh, diesen Weg dennoch konsequent und beharrlich gegen eigene, innere Widerstände weitergegangen zu sein. Selbstverständlich könnten mir alle Betrachter*innen die Frage stellen, was denn die Fotos der Dokumentation oder Makroaufnahmen von Details der Stative und Kameras mit Mühes Kreidefelsen zu tun hätten. Meine Hoffnung ist ja gerade, dass sich die Betrachter*innen fragen, was Mühes Foto mit dem Motiv Kreidefelsen zu tun hat, also was mit welchen Folgen durch ihr Ausgeliefertsein an individuellen Wahrnehmungsassoziationen, um dem Bild eine eigene Kritik unterziehen zu können.
In Reihe 7 hatte ich begonnen, anstatt ein Gesamtvideo Aufnahmen von den Kontroll-Smartphones zu machen.

In Reihe 8 habe ich auch Detailvergrößerungen eines Kameradisplay abfotografiert das wiederum nur ein anderes Kameradisplay abbildet und bei denen diese letzten Fotos alle Fehler der Displays inklusive Kompositionsgitter und Pixel zeigen, da sende ich dir auch einmal eine zusammengesetzte Fotoreihe.

Morgen beginne ich mit Reihe 9 und einem erneut veränderten Aufbau der Stative, die ich dadurch nicht mehr ständig zusammen mit der Tageslichtlampe verstellen muss, anbei ein Foto. Die Spiegelung mittels Smartphone musste ich deshalb jenseits des Schreibtisches umstellen, die findet nun durch einen angeschraubten Polarisationsfilter vor einer alten Kamera mit Objektiv statt.

WU, 29.9.19

Dein Projekt zu Mühe entwickelt sich ja mehr und mehr zum Pool für eine großangelegte bildtheoretische Abhandlung! Du sprichst damit so viele wichtige Fragen und Themen an - etwa die Frage: "Muss sich nicht jede Kreation, auch die von Mühe, damit auseinandersetzen und antizipieren, was das Werk in der Wahrnehmung des Betrachters auslöst?“ Da kann ich Dir nur laut zustimmen! Es macht gerade auch die Qualität eines Künstlers aus, das, was er auslöst, vorab zu reflektieren. Von Thomas Huber gibt es den schönen Satz „Der Künstler ist für die Umgangsformen seines Publikums verantwortlich“ - an den dachte ich, als ich Deine Mail las. Bezieht man ihn auf Mühe rück, dann wäre er auch verantwortlich zu machen dafür, dass bei seinen Bildern romantisch-völkische Sehnsuchtsbilder wach werden. Wenn Du schreibst, Mühe liefere die Rezipienten mit ihren Wahrnehmungen seinem Werk aus, dann sprichst Du seine unterlassene Verantwortung auch sehr gut an! Dabei braucht man - das wiederum macht Hubers Satz deutlich - gar nicht moralisch zu argumentieren. Vielmehr ist es eine zuerst einmal künstlerische Nachlässigkeit oder Leichtsinnigkeit, als Künstler bei den Rezipienten gewisse Wahrnehmungen zu begünstigen.

Durch Deine Dekonstruktion des Mühe-Bildes, die Du durch Deine Transformation davon, vor allem aber durch die Dokumentation von deren Genese vollziehst, servierst Du den Rezipienten nicht einfach nur etwas, was gefällige (und problematische) Assoziationen auslöst. Vielmehr beweist Du Deine Verantwortlichkeit gerade dadurch, dass Du die Rezipienten Deines Bildmaterials zu Eigenverantwortlichkeit erziehst. Jeder von ihnen muss entscheiden, was er oder sie damit macht, wofür er oder sie sich interessiert, welchen Weg er oder sie sich bahnt - und wie er oder sie das alles auf den Ausgangspunkt rückbezieht. Es könnte keinen gegensätzlicheren Umgang mit den Rezipienten geben als zwischen Dir und Mühe. Du holst an bildethischem Impetus nicht nur nach, was er versäumt hat, sondern gehst ins andere Extrem - das sicher auch nie Standard werden kann, das aber so viel Verallgemeinertes offenbart.

Ich denke darüber nach, welche Form man dem Projekt am Ende wohl am besten gibt. Ob es online besser aufgehoben ist als in einer Ausstellung? Oder ob man nicht auch da wieder mehrgleisig verfahren müsste? Oder gerade eingleisig, um die Vielfalt zu bändigen?

 

NP, 30.9.19

Vielen Dank für das großartige Zitat von Thomas Huber, das trifft es auf den Punkt! Ich stehe seiner Kunst, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag, auch sehr viel näher als zu nahezu allen anderen Künstlern, die ich kenne.

Ja, mein Projekt entwickelt sich immer mehr zu einem absichtlich extrem übersteigerten Erziehungs- und Wahrnehmungsprogramm für Kunst- oder allgemein Bilderrezipienten. Dekonstruierende Bilderwelten als Kunsterziehung ;-)

Ich denke zur Zeit auch darüber nach, wie man das alles zeigen sollte. Auch ich dachte zwischenzeitlich an eine parallele Präsentation, bei der das gesamte Bildmaterial online stehen würde. Dabei fiel mir aber auf, dass die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung durch den engen Raum einer wie auch immer gestalteten Plattform am Bildschirm für zahlreiche digitale Bildformate zwar eine Grundvoraussetzung darstellen, hier aber ein Problem definieren, dass meiner Absicht im Falle einer alleinigen Online-Präsentation entgegenstünde. Die Videoformate definieren bereits die Notwendigkeit irgendeiner Form der Bildschirmpräsentation. Eine selbstablaufende, also dem Rezipienten zum Konsum servierte Präsentation in einem Ausstellungsraum entspräche wiederum nicht der Angemessenheit digitaler Bildwelten, das wäre nur eine technische Paraphrase à la Nam June Paik oder Wolf Vostell. Die Videos müssten also bei Instagram oder YouTube gezeigt werden.

Letzte Woche kam mir eher der Gedanke, die vielen Fotos (oder zumindest eine große Auswahl) nicht einzeln drucken zu lassen, sondern nach einem System oder nach Zufallsprinzip als kleine Abbildungen auf großformatigen Drucken zu präsentieren, deren Format auch das des Gemäldes selbst sprengen, so etwas hier:

https://www.fotoparadies.de/wandbilder/posterdruck-xxl.html

Im Format 80 x 240 kostet so ein Druck gerade einmal knapp 55 Euro, darauf würden 512 Fotos passen, wenn sie eine Einzelgröße von 5 x 7,5 cm hätten. Ich kann zwar nicht absehen, wie viele Drucke ich bräuchte, aber mir fielen Deine Gedanken zur Frage ein, ob man das Gemälde separat oder zusammen mit den Fotos zeigen solle. Die gängigen Ausstellungskonzepte mit Tausenden von ausgedruckten Polaroid- oder Laborabzügen will ich doch vermeiden, da ich befürchte, dass das Gemälde alle Relevanz auf sich ziehen würde, während die Fotos über ein dekoratives Beiwerk nicht hinauskommen. Die Großformate böten auch die Möglichkeit, je nach Objektiv und Art der Aufnahme thematische Bildsammlungen zu zeigen.


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E-Mail-Dialog mit Wolfgang Ullrich, 73 Seiten
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