E-Mail-Dialog mit Wolfgang Ullrich III


NP, 14.10.19

Meine Altdigitalkamerasammlung ist mittlerweile auf 25 Stück angewachsen, eine ideale Gelegenheit, das digital bearbeitete Mühemotiv im Vollbildmodus zu öffnen und mit den alten Kompaktkameras von der Gesamtansicht bis zu den Detailaufnahmen abzufotografieren. Die 150 Fotos, die da herausgekommen sind, übersende ich Dir zusammen mit dem verkleinerten Screenshot anbei als zwei generierte Kontaktabzüge.

Ich war selbst erstaunt, wie heterogen diese Galerie trotz standardisierter Einstellungen wurde. Natürlich stechen zwei Kameras heraus, die defekt sind. Die eine hatte ich Dir bereits vorgestellt, eine zweite, ebenfalls eine alte Canon Kompaktkamera von 2004, zeigt ebenfalls beginnende Sensordefekte. Und am Ende stehen die Ergebnisse einer Olympuskamera von 2001, die offensichtlich die Belichtung zu großzügig umsetzt und eine eigene Ästhetik schafft.

WU, 15.10.19
Ich finde die Ergebnisse der Bilder, die Du mit den 25 Kameras gemacht hast, hochinteressant! Auf andere Art als bei den Kopien der Kopien der Kopien des Wagner-Bildes wird der Anteil der Technik an der Bildwerdung so gut sichtbar. Und die Absurdität eines Hashtags wie #nofilter. Denn so sehr dieser suggeriert, es gebe so etwas wie eine reine Fotografie, so sehr machen Deine Bilder deutlich, dass das eine fromme Illusion ist. Es ist wirklich verblüffend, wie groß die Unterschiede ausfallen - und das auch ganz ohne defekte Sensoren etc. Auf jeden Fall ist diese Serie eine wichtige Ergänzung zum gesamten Projekt.
Ich schulde Dir noch eine Antwort auf Deine Frage von vor zwei Wochen. Ja, ich finde es eine sehr gute Idee, jeweils 512 Fotos auf eine große Tafel drucken zu lassen. Da könnte man sich sehr unterschiedliche Tableaus vorstellen, was Themen und Bezüge anbelangt. Man müsste auch nicht jedes Mal alle 512 Positionen besetzen, sondern könnte mit Leerstellen arbeiten. Und zum Teil auch dieselben Fotos mehrfach verwenden, für unterschiedliche Thementafeln. Das alles wird dann ein Pendant zu Warburgs Mnemosyne-Atlas ;-) Ein Atlas der Bildgebung sozusagen.


NP, 15.10.19
Danke für Deine Einschätzung zum kleinen Parallelprojekt mit den alten Kameras! Eine großartige Idee von Dir, die Evidenz der angedachten Bildtafeln mit Leerstellen und Wiederholungen zu erhöhen. Vielleicht wäre dort ebenfalls der Raum für die unterschiedlichen Bildgrößen, die von den Auflösungen der Kameras klar definiert werden, das ist mir beim Vergleich zu Warburgs Mnemosyne-Atlas aufgefallen. Er hatte ja wohl auch unterschiedlich große Drucke und Ausschnitte aus Veröffentlichungen gewählt, die zwar nicht abhängig waren von den technischen Grenzen der ursprünglichen Reproduktionen, wohl aber von den Medien, in denen sie veröffentlicht wurden. Auch das betrachte ich als einen wichtigen Aspekt der Bildgenese.


WU, 16.10.19
Ja, bei Warburg ist immer nachvollziehbar, woher er ein Bild jeweils hat - dessen Produktionsbedingungen sind sichtbar. Wichtig ist bei ihm auch, dass Bilder, die zirkulieren, gleichsam eingefangen werden. Sie werden exemplarisch stillgestellt, um zu neuen Erkenntnissen beizutragen. Bei Dir ginge es darum, auf den Tafeln Bilder zu arrangieren, die alle gleichsam denselben Ursprung, zumindest aber denselben Anlass haben: das Foto von Mühe. Es ginge darum, Genealogien, Verwandtschaftsbeziehungen, Hierarchien, Kausalitäten etc. sichtbar zu machen, gleichsam Bildstammbäume zu entwickeln.


NP, 16.10.19
Deine Ausführungen zu meiner Arbeit im Sinne von Warburgs Werk sind so wichtig, das wird mich noch näher und intensiver beschäftigen und ich bin sicher, dass mir dazu noch einiges einfällt. Deine Bemerkung, dass meine Bilder das Mühebild als denselben Ursprung haben, ließ mich gleich wieder eine digitale Umsetzung aus meinem Archiv hervorholen, bei der ich Friedrichs Kreidefelsen mit einem eigenen Farbtonfilter in Mühes Farbästhetik umgesetzt hatte, das schicke ich Dir mal anbei

WU, 18.10.19
Super: Dein Mühe-Friedrich! Da wird die Problematik von Mühes Ästhetik umso sichtbarer. Ich denke, es motiviert, wenn Du Dir das immer mal wieder anschaust - und so den Grund für Dein gesamtes - gewaltiges - Projekt jeweils neu vergegenwärtigst.


NP, 1.11.19
Grundsätzliche Gedanken kamen mir beim Lesen der "Theorien der Fotografie". Ich habe Barthes "Helle Kammer" zwar schon lange im Regal, aber erst die zeitgleiche Kombination aus dem aktuellen Projekt und Geimers Buch brachte mir eine These von Barthes sehr nahe. Für Barthes gibt es ja die paradoxe Funktion der Fotografie, ihre Medialität aufzuheben. Für mich ist das nicht nur nachvollziehbar, es entspricht auf einer anderen Ebene ähnlich gelagerten Paradoxien der Wahrnehmung, wie bspw. Vexierbildern bezüglich des dargestellten Inhalts, wo sich Barthes' "Es-ist-so-gewesen" ergänzen ließe mit einem "oder so".
Barthes' Beschreibung der Funktionsparadoxie kam mir sofort in den Sinn, als ich eine über Twitter beworbene Seite über eine Fotoretuscheurin öffnete, das viele Bildbeispiele vor und nach der Retusche zeigt. Dir erzähle ich vermutlich nichts Neues und vielleicht steht es auch in Geimers Buch, aber dort (https://mymodernmet.com/michelle-spalding-photo-restoration/) ist mir so richtig aufgefallen, dass hier Barthes auf beste bewiesen wird. Es geht nämlich darum, was vorwiegend sichtbar ist, also wie bei Vexierbildern zuerst in die Wahrnehmung tritt, der sich kein Betrachter entziehen kann, sondern - wie Lambert Wiesing das so schön formuliert hat - ihr ausgeliefert ist. Das, was die Besitzer als störend empfinden und zur Beauftragung einer professionellen Retusche treibt, ist nicht nur Schadensbegrenzung oder Schadenrückführung, sondern die Aufhebung der unausweichlich wahrgenommenen Medialität.
Interessant für mich war nun aber auch die Tatsache, dass fast alles, was in der analogen Fotografie von der "Unsichtbarkeit der Medialität" ablenken konnte (sogenannte Telegrafendrähte durch Kratzer in der Andruckplatte oder beim Entwickeln, nicht homogene Verteilung des Entwicklers, bis zum sichtbaren Korn hochempfindlicher Filme) mit der Digitalfotografie mit einem Mal verschwand. Retrospektiv kann ich das hier jeden Tag bestätigen, an dem ich mit der alten Kiev als Vorkriegs-Contax-Kopie arbeite: Die potenziellen Fehlerquellen - besser gesagt, die potenziellen Gefahren medialer Wahrnehmungsquellen sind weitaus größer als selbst bei den ältesten und abgerocktesten Digitalkameras.
Du erinnerst Dich, dass Du selbst auch die Bilder aus der Digitalkamera mit den massivem Sensordefekten als evident für mein Projekt bezeichnet hast. Und so ging's mir ja auch. In der Digitalfotografie fallen mir tatsächlich nur drei Medialitätsbeweise ein, die auftreten können: Sensordefekte (selten), "tote Pixel", die wie kleine Sterne vor allem in dunklen Bildbereichen auftauchen können (ebenfalls selten, gibt's auch bei Computermonitoren) und vor allem Sensorflecken, die häufig auftauchen: kleine dunkle Punkte, die von Staub und Flusen auf dem Sensor hervorgerufen werden, vor allem bei Systemkameras durch den Wechsel der Objektive. Von drei Fehlerquellen hätte die Analogfotografie noch zu Beginn der Nullerjahre geträumt. Die "technische Perfektionierung" der digitalen Bildwelten lässt sich somit auch als Perfektionierung der Aufhebung der Medialität umschreiben. In meinem Essay für das Marta-Blog schrieb ich ja schon von der Austauschbarkeit einer perfektionierten Ästhetik. Diese Ästhetik ist aber nichts anderes als der Versuch, die "Es-ist-so-gewesen"-Wahrnehmung des Auges möglichst perfekt mit dem Smartphone zu reproduzieren. Dazu kommt, dass aus dem "Es-ist-so-gewesen" durch die Gleichzeitigkeit der Verbreitung in den sozialen Netzwerken ein "Es-ist-so" geworden ist, während ich z. B. mit den Kontaktabzügen und dem ganzen Mühe-Projekt diese ganze lineare Entwicklung wieder auf den Kopf stelle und behaupte: "Es-ist-so-gewesen-und-so-und-noch-ganz-anders" ;-)

 

WU, 1.11.19
Was Du ausgehend von Barthes über den Unterschied von analoger und digitaler Fotografie schreibst, ist höchst plausibel. Tatsächlich gelingt die Aufhebung (Ausblendung) der Medialität in der digitalen Fotografie besser. So, wie ich Barthes verstanden habe, geht es bei dem „Es-ist-so-gewesen“ aber nicht nur um die Transzendierung des Medialen, sondern jenes wird auch umso stärker erfahren, je erfahrbarer zugleich die Bildwerdung ist. Man soll ja gemäß Barthes idealerweise noch spüren, wie da Licht von einem Körper auf die lichtempfindliche Oberfläche getroffen ist, soll also den Spur- oder Reliquien-Charakter des Fotos eigens erleben - und damit erst sicher sein, dass ‚es‘ wirklich so gewesen ist. Deshalb präferiert Barthes etwa die s/w-Fotografie gegenüber der Farbfotografie, bei der weniger sichtbar ist, dass Fotografie einfach nur Licht fixiert. Bei Farbfotografie ist gemäß Barthes also nicht nur die Medialität weniger präsent, sondern auch das „Es-ist-so-gewesen“ nicht so stark erfahrbar. Das ideale - sprich: das stärkste - Foto würde beides schaffen: Medialität ausblenden, Reliquienstatus maximieren.
Bei der digitalen Fotografie nun scheint mir eine andere Dialektik im Vordergrund zu stehen. Einerseits geht es auch darum, ob und wie die Medialität präsent ist, auf der anderen Seite steht hier aber die Erfahrung des Bildes als eines Gemachten/Konstruierten/Programmierten. Das ideale digitale Bild blendet Medialität aus, maximiert aber die Erfahrung, es mit einem Artefakt zu tun zu haben. Und das gelingt Dir etwa so gut mit Deinen Vergleichsbildern oder mit dem Wagner-Projekt, wenn deutlich wird, wie viel an einem Bild von dem Programm abhängt, mit dem es gemacht wurde. Durch Dich und Deine Arbeit habe ich das überhaupt erst richtig kapiert - und daher würde ich nun auch weiter in diese Richtung denken, um den Unterschied von analoger und digitaler Fotografie zu fassen.


NP, 1.11.19
Du hast absolut Recht: Das, was ich da mache, ist eine Dekonstruktion des Mythos vom "Es-ist-so-gewesen" als archetypisches Artefakt. Es stimmt deshalb auch für mich, dass Barthes eine ganz andere Dialektik im Vordergrund hatte als die, die im Zeitalter der Digital- und Smartphone-Fotografie angelegt werden muss. "Die Erfahrung des Bildes als eines Gemachten/Konstruierten/Programmierten", wie Du schreibst und die Tatsache, dass das ideale digitale Bild die Erfahrung eines Artefakts maximiert, ist der wunderbar formulierte Kern, den ich mit dem Mühe-Projekt sozusagen bis in seine Atome aufspalten will.
Mir waren nur während der analogen und digitalen Arbeit die idealen Voraussetzungen für die Ausblendung der Medialität in der Digitalfotografie aufgefallen und dass diese Voraussetzungen nicht nur perfekt sind, sondern auch notwendig, um überhaupt auf die Ebene der differenzierten Dialektik einer Digitalfotografie zu gelangen. Anders gesagt: es hätte zuvor nie der Status der notwendigen Voraussetzungen erreicht werden können, weil die analoge Fotografie immanente Grenzen zieht, für die nur die Dialektik Barthes hinreichend ist.
Dass sich nach Deiner Auffassung die Dialektik à la Barthes von der der Digitalfotografie unterscheidet, war für mich zudem ein großes und wichtiges Aha-Erlebnis, denn all die Möglichkeiten, die die Digitalfotografie für die "Dekonstruktion des So-Gemachten" bietet, boten mir bislang keine Inspirationsquelle für die analogen Filme, die hier auch langsam immer mehr werden. Mehr als die anfängliche Idee des Komplett-Scans, also inklusive der Ränder, fiel mir bisher nicht ein. Aber nun wurde mir der Grund klar: Will ich beliebige Manipulationen und somit wieder das Narrativ vom Subjekt eines "kreativen Fotografen" vermeiden, hat der entwickelte Filmstreifen die Grenze bereits gezogen. Alles, was ich damit machen könnte, wäre eine Form der Weiterverarbeitung, die nichts mehr von der Subtilität reproduzierender oder wiederholender Methodik hätte, sondern eher dem expressionistischem Kreativitätsverständnis entspräche, was mein ganzes Projekt vergiften, ja ad absurdum führen würde. Hier hat die analoge Kameratechnik bereits die technischen Voraussetzungen geschaffen, weil sich der Akt des analogen fotografischen Prozesses der absoluten Kontrolle des ausführenden Subjektes implizit verweigert. Der gerissene Verschlussvorhand der Vorkriegs-Contax ist ein Beispiel, ebenso die Tatsache, dass ich für einige Filme eine Spule verwendete, die um einen halben Millimeter zu kurz war, und die Filme nicht genug weitergetragen wurden und sich deshalb überlappen. Das alles habe ich nicht nur in Kauf genommen, ich habe es als "Es-ist-so-gewesen" in medialer Hinsicht nüchtern und ohne Bewertung zur Kenntnis genommen. Hier - und nur hier - wird deshalb auch eine "technische Spur" der Analogfotografie evident, die es so in der Digitalfotografie durch Abwesenheit solcher Fehlerquellen nie gab oder geben wird.
Hier liegt vielleicht auch ein Kern der Lebendigkeit scheinbar toter Analogfotografie im Amateurbereich, die sich in den letzten zwei Dekaden auch durch die Lomografie erhalten hat. Ich habe der Lomografie früher nie eine Bedeutung zugemessen, aus der Hüfte irgendwie auf ein Motiv zu halten und sozusagen stets nur einen Schuss ins Blaue zu wagen. Und das, obwohl ich selbst 2008/2009 einige Filme auf diese Art und Weise verschossen habe, ohne zu wissen und genauer zu reflektieren, warum ich das eigentlich tat. Unverständlich war mir auch, dass Lomo-Fans nur Kameras bis zu einer begrenzten Professionalität für sich akzeptieren. Das hielt ich stets für ein manieristisch-gezwungenes Element. Bei der Lomografie geht es nicht um die Kamera als Werkzeug für ein möglichst perfektes Ergebnis, das dann natürlich immer die bestmögliche Technik verlangt, sondern um ein Spiel zwischen dem Wissen und der Erfahrung des Fotografen und den technischen Grenzen einer rudimentär ausgestatteten Analogkamera. Auch hier ließe sich im Gegensatz zur Profi- oder auch Reproduktionsfotografie fragen: wer hat in diesem Spiel, ja Wettstreit das Foto vorwiegend geschossen? War es das Können des Fotografen? Und welche Rolle spielte der Zufall, der zu einem gelungenen oder misslungenen Ergebnis führte? Ganz im Sinne einer antiexpressionistischen Auffassung ließe sich so auch mein Wagner-Fragstellung auf die Analogfotografie übertragen, nur dass nicht eine hochkomplexe und bis ins Detail der Aufnahmesituationen perfektionierte KI-Software das Artefakt bestimmt, sondern die einer simplen, analogen Technik innewohnenden Grenzen und Fehlerquellen.
Ich halte Barthes übrigens immer noch für relevant, misstraue aber seiner These, dass S/W-Fotografie deshalb "authentischer" sei, weil die das "Es-ist-so-gewesen" stärker erfahrbar machen würde als Farbfotografie. Mir scheint es logischer und freier von Ideenkonstrukten auratischer oder spurgebener Gegebenheiten zu sein, die unzweifelhafte Besonderheit der S/W-Fotografie einerseits auf die evolutionär begründeten Funktionen menschlicher Sinneswahrnehmung zurückzuführen, da in der Dunkelheit alle Katzen grau sind, auch hungrige Großkatzen, Form und Kontraste also überlebenswichtiger waren als Farben. (In der Dunkelheit lassen sich Objekte nicht exakt orten/fixieren, da aber Vormenschen und Menschen eine offene Savanne oder Landschaft eher "sannen" mussten, lassen sie sich umso besser erkennen, da die rein lichtempfindlicheren Stäbchen aus den Randbereichen des Auges angeregt werden.) Das "Es-ist-so-gewesen" funktioniert bei S/W-Fotografie lediglich genauso gut wie bei Farbfotografie, nur dokumentiert die S/W-Fotografie besser als die Farbfotografie ihren Ursprung des "Gemachten/Konstruierten/Programmierten", wie Du das so schön zusammengefasst hast, um so auch ein höheres Anrecht auf den Reliquienstatus zu bekommen.
Dann sehe ich noch eine kulturelle Dimension. So, wie Du die Selfie-Fotografie mit Recht für geeignet hältst, auch neue Formen der analogen, visuellen Kommunikation verändern zu können, gab und gibt es Kulturleistungen, die sich trotz neuer, veränderter oder besserer Alternativen gehalten haben. Nicht nur der Barockrahmen hat sich als Stilmittel und Präsentationshilfe bis heute erhalten, das gilt auch für die oben beschriebene Besonderheit der S/W-Fotografie. Selbst die einfachsten Digitalkameras mit rudimentären Funktionen beinhalten als Filter zumindest eine S/W-Umrechnung. Ganz im Sinne Deiner Selfie-These besteht aber die Möglichkeit, dass die Kulturtechnik der Smartphone-Fotografie zu einer zunehmenden Irrelevanz der S/W-Fotografie in anspruchsvollen Bereichen führen könnte, wo sie selbst als Digitalfoto noch eine Alternative zur Farbfotografie darstellt. Nicht nur Farbe ist der Standard unserer Bildwelten geworden, im Zuge des NoFilter-Trends ("Es-ist-so-gewesen-ohne-Manipulation") kann auch S/W diesem Trend zum Opfer fallen.

 

NP, 1.11.19
Ich habe bei der nun auch schon Monate währenden Arbeit am Mühe-Projekt gemerkt, wie wichtig mir einerseits die Zurücknahme meiner Person als Künstlersubjekt ist und alle Ideen, mich selbst ins Bild zu setzen, hatte ich schnell verworfen. Erscheine ich auf einem Videoclip, ist es eher ein Zufall, bzw. Unfall. Dass mir andererseits genauso wichtig ist, keine Manipulationen vorzunehmen, die auch nur eine Form freier und damit beliebiger Aneignung darstellen, fiel mir gestern auf, als ich die digitalen Kontaktabzüge der Kompaktkamerafotos betrachtete. Angesichts der zwei Kameras mit den Sensordefekten suchte ich in meinen alten Bookmarks nach einer Digitalkunstrichtung, deren Name ich vergessen hatte. Das war "Glitch Art", bei der es um eben solche Manipulationen ging:
https://digital-photography-school.com/make-abstract-glitch-art-photographs/
Als ich es zum ersten Mal sah, fand ich es zwar sehr spannend, aber es erinnerte mich sofort an das Selbstverständnis des Tachismus, der meiner Ansicht nach nicht zu Unrecht in der Versenkung der Depots verschwunden ist. Neulich sagte mir ein Freund, ich würde es mir mit der strikten "Trennung von Werk und Künstler" doch unnötig schwer machen, aber ich bin da wohl doch ein zu großer Prinzipienreiter mit vielleicht zu großem Hang zur Wahrheitsfindung ;-)


WU, 2.11.19
Mir scheint, Du bist da etwas auf der Spur, das theoretisch noch gar nicht so richtig gefasst ist. Das Besondere an Deinen Projekten erscheint mir zusehends, dass Du die Malerei eigentlich als Medium im wörtlichsten Sinne verwendest - als Vermittlerin zwischen analogen und digitalen Logiken und Ästhetiken. Sind schon Deine Gemälde zwar analog, aber digital grundiert, so produzierst Du um sie herum analoge wie digitale Fotografien. Und verhandelst so deren Eigenschaften oder eben auch Dialektiken. Letztlich lotest Du den Raum zwischen dem ‚Es-ist-so-gewesen‘ und dem ‚Es-ist-so-gemacht‘ aus.
Ich kann Dir nur beipflichten, dass alle Praktiken von Unterbelichtung bis zu Glitch ein Rückschritt in eine expressionistische Kreativitätssehnsucht wären. Wie gut, dass Du das konsequent vermeidest und dafür - sozusagen - die Medien und Techniken selbst sprechen lässt. Nur indem Du Dich ganz zurücknimmst, wird das Spezifische der jeweiligen Techniken voll präsent.
Interessant, dass Du die Lomografie ansprichst! Es wäre reizvoll, sie heute nochmal genauer zu analysieren - mit all unserem Wissen über Social Media etc. Man würde wohl entdecken, dass es die erste Bewegung war, die bereits versucht hat, Bilder zum Anlass für Community-Bildung zu nehmen und ein affirmatives Verständnis von Bilderflut zu entwickeln. Immerhin waren ja die Lomo-Wände große Events. Und vielleicht wäre Instagram ohne Vorläufer wie Lomografie gar nicht in der Form entwickelt worden… LowTech im Analogen fand seine digitale ästhetische Entsprechung in gewissen Filtern, doch während es einmal darum ging, das ‚Es-ist-so-gewesen‘ nochmal richtig zu zelebrieren, indem man Bilder machte, die dramatisch waren, weil es überhaupt nur ganz knapp zur Bildwerdung gereicht hat, ging es im anderen Fall darum, durch die nachträgliche Wahl von Filtern ein ‚Es-ist-so-gemacht‘ zu erleben. Also auch hier wieder der Wandel innerhalb der Dialektiken.

NP, 4.11.19
Du hast den absolut richtigen Gedanken gehabt, ich lote analog zu Barthes' Worten tatsächlich das Spannungsfeld zwischen dem "Es-ist-so-gewesen" und dem "Es-ist-so-gemacht" aus. Ich lege die Malerei selbst tiefer auf die Ebene eines Mediums, um die begleitenden Akte zu einer gleichrangigen Auseinandersetzung mit Mühes Foto zu machen. Die für mich wichtige Folge ist außerdem, dass auch die farblich veränderte Auschwitz-Paraphrase auf dem Gemälde jetzt nur eine von mehreren Dialektiken widerspiegelt.
Ich finde Deine hypothetische Frage großartig, ob es Instagram vielleicht ohne die Lomo-Community nicht gegeben hätte. Zumindest lässt sich allein aus der Kombination Community und Bilderquantität diese Überlegung konkret ableiten.
Es gab vor der Lomografie noch ein Zwitterwesen aus High- und Low-Tech, das ein „Es-ist-so-gemacht“ mit (analoger) Community verband: die Polaroid-Technik. Es fehlte zwar noch die Gleichzeitigkeit der Smartphone-Apps zur Veröffentlichung in den Sozialen Medien, dennoch mussten sich Polaroids nicht der Ungleichzeitigkeit der klassischen Analogtechnik unterwerfen. Polaroids fanden immer da Anwendung, wo eine Rezeption in einem engen Umfeld einen sozialen Mehrwert generierte. Technisch kam die Technik kaum auf den Stand zeitgenössischer Kompaktkameras. Selbst die Abzüge der schmalbrüstigen Instamatic- oder Pocket-Kameras (ich hatte auch so eine Ritsch-Ratsch-Klick-Agfa) waren qualitativ besser. Allerdings brachten nur die Polaroids das Bild als Artefakt eines „Es-ist-so-gewesen-und Es-ist-so-gemacht“ unmittelbar zum Vorschein, und ich kann mich selbst noch erinnern, wie solche Fotos auf Klassen- oder Familienfeiern herumgereicht wurden. Mir scheint, dass Nutzer der Polaroidkameras nicht aus Kostengründen den Low-tech-Standard akzeptierten, im Gegensatz zu den erwähnten, weitaus billigeren Pocketfilmen. Ich glaube nicht einmal, dass der Charakter als nicht reproduzierbares, fotografisches Unikat eine derart große Rolle spielte, die ihr heute im Nachhinein immer wieder und gern unter Bezugnahme zu Benjamins Aura zugestanden wird.
Natürlich hat "Das Polaroid" mehr von einer Reliquie als alle anderen fotografischen Produkte nach der Daguerreotypie. Das erkannte aber nur die kleine Schar der Fotokünstler, mit deren Umsätzen Polaroid jedoch nicht einmal ein Jahr hätte existieren können. Ich glaube aber, dass Polaroids im wahrsten Sinne des Wortes geteilt wurden, so wie man heute Digitalfotos teilt. Es war eben doch die verhältnismäßig schwere Materialität mit dem – eigentlich technischen bedingten Rahmen – der dazu führte, dass man Polaroids eher in einem Schuhkarton aufbewahrte als in einem Fotoalbum, das für die vergleichsweise dünnen Abzüge optimiert war.
Was wir heute Filter nennen, wurde in der Hochzeit der Polaroid-Fotografie "Charakter" genannt, und nicht umsonst sah sich Instagram bis zum Statement des Logos als direkte, digitale Reinkarnation der Polaroid-Fotografie (und bzgl. des Namens natürlich der Kodak Instamatic: https://www.lomography.de/cameras/3315849-kodak-instamatic-100/photos
Was Polaroid und Lomografie in meinen Augen verbindet, ist das, was ich bis zum Beginn des Mühe-Projektes bezüglich der Lomografie genau so gesehen habe wie Du, nämlich Bilder, die „dramatisch waren, weil es überhaupt nur ganz knapp zur Bildwerdung gereicht hat“. Das gilt für eine Bewertung der Bildinhalte, bzw. der Bildwerdung anhand von Parametern einer fotografisch-gestalterischen Sicht. Ich glaube jedoch, dass die meisten Lomografen genau das nicht wollten, genauso wenig wie sie hochwertige Kameras nutzen wollten. Auch bei ihnen fand ich immer kurios, dass sie für originale Lomo-Kameras viel mehr Geld ausgaben, als diese Plastikbomber wert waren. Das gilt bis heute auf dem Gebrauchtmarkt: erstklassige Spiegelreflexkameras der Analogära kann man für zweistellige, Kompaktkameras für einstellige Beträge bekommen, gebrauchte Lomos sind im Preis dagegen kaum gefallen. Es muss also um etwas anderes gehen, danach habe ich lange gesucht und bis zu unserem aktuellen Mailverkehr nie gefunden.
Bei den Lomografen geht es nicht darum, dass sie's nicht besser können, sondern dass sie es nicht besser wollen. Und mir scheint, es geht dabei (vermutlich unbewusst) um die Sichtbarmachung des Artefakts in einer reinen Form. Würde man vielen dieser Freaks eine hochwertige Kamera mit der Bitte um ein gutes Porträt in die Hand drücken, würden sie es genauso gut hinbekommen wie jeder andere ambitionierte Amateurfotograf. Einige von denen fand ich auch bei Flickr und dort zeigen die ganz hervorragende Fotos, was mich damals noch mehr verwirrte und mich zum Entschluss brachte, die Lomografie sei so etwas wie eine fotografische Trash-Sekte ;-)
Das Faktische, also die Spur des „Es-ist-so-gewesen“ lenkt nicht nur von der Medialität des Fotos ab, es lenkt auch vom Foto als Artefakt ab. So gesehen, gebe ich Dir vollkommen recht, dass die nachträgliche Wahl von Filtern ein „Es-ist-so-gemacht“ wahrnehmen lässt. Ist nun das Faktische so präsent und evident wie auf den perfekt bearbeiteten Fotos, die heute vor allem Ergebnisse der Postproduktion in der digitalen Dunkelkammer sind, bezieht sich die Wahrnehmung und Bewertung auf die Qualität dieser Spur des Faktischen. Spricht man von einem grandiosen Foto, meint man in der Regel, der Fotograf hätte das Motiv großartig gesehen oder fantastisch eingefangen, es ist also stets die Rede von einer bestmöglichen Umsetzung des Parameters „Es-ist-so-gewesen“.
Es gibt immer wieder Fälle von Dokumentations- und vor allem Naturfotografen, die man überführt hat, irgend etwas an ihren Bildern manipuliert zu haben. In den ärgsten Fällen geht das durch die Fotogemeinde, weil dem Fotografen der Preis aberkannt wurde. Was nie diskutiert wird, ist die grundsätzliche Dialektik der Technik und Medien, die selbst für das unberührteste Foto als vermeintliches Abbild des „Es-ist-so-gewesen“ notwendig waren.
Jedem Polaroid-Fotograf ist bewusst, dass das Bild, das sich unten aus dem Kasten hervorschiebt, nach der Entwicklungszeit nicht das zeigt, was er durch den Sucher gesehen hat, sondern eher ein „Es-ist-ungefähr-so-gewesen“, das Ungefähre ist dabei der Polaroid-Charakter, bzw. -Charme in medialer und ästhetischer Hinsicht.
Die Lomografen verwenden selten Filter, sie geben ihre Bilder in die Cross-Entwicklung oder belichten schon beim Fotografieren zusätzlich zu den Unwägbarkeiten der Technik an sich entweder über oder unter Wert und geben das dann im Labor oder auf der Versandtasche an. Im Gegensatz zur Postproduktion und auch im Gegensatz zu Polaroid-Nutzern wissen sie aber nicht, ob und wie sich das Ergebnis mit ihrer Antizipation deckt. Dadurch, dass sie banalste Motive wählen, kompositorisch ungenügend arbeiten, direkt aus der Hüfte ins Blaue schießen, gleicht ihre Arbeit nicht nur einem Spiel, sondern einer Revolte gegen alles, was gemeinhin als Fotografie zählt. Anders gesagt: Sie stellen das zur Schau, was jeder Hobbyfotograf früher an der Drogerietheke ohne Widerspruch als fehlerhaft zurückgeben konnte, ohne dafür zu bezahlen. Die „Magie“ dieser Fotos erinnert an Filter aus Horror- oder psychedelischen Trash-Movies der 1970er Jahre.
Entscheidend ist für mich aber die Dominanz als Artefakte. Auf der weiter oben verlinkten Seite sieht man auch, dass die Lochung der Filmstreifen absichtlich mit eingescannt wurde. Indirekt hast Du selbst bestätigt, dass die Bilder „dramatisch waren“. Die Bildwerdung hat Deine Wahrnehmung nicht in ihren Bann gezogen, Du hast wie ich bislang vergeblich die Spur des Faktischen gesucht und stattdessen nur artifizielle Dramatik gefunden. Könnte es nicht vielmehr so sein, was ich mittlerweile denke, dass wir stattdessen Artefakte in einer anderen und vielleicht sogar reineren Form oder „Spur“ gefunden haben? Dass wir aber für dieses Andere auch notwendigerweise die Bewertungsparameter hätten ändern müssen?
Dieses Andere sehe ich in der Tatsache, dass bei diesen Artefakten der Lomografie die Schöpfer nur noch als begleitende, ja fast blinde Knechte erscheinen. Barthes‘ Beispiel des ungarischen Geigers auf der Allee lässt neben dem Fotografen vor allem die Medialität weitgehend unsichtbar werden. Das liegt aber daran, wie Barthes es selbst als Paradox der Fotografie formuliert hat, weil das Faktische des Bildinhalts in den Vordergrund tritt.
Bei Lomos gilt das nur für den Fotografen. Du hast natürlich völlig recht, die Filme, bzw. Abzüge zeigen vor allem die aufgeladene Dramatik, die je nach gewünschtem Film oder Entwicklungsprozess genauso gewollt waren. Ansonsten zeigen diese Fotos tatsächlich eher belanglose Schnappschüsse bis hin zu Motivunfällen und allenfalls gelungene Zufallstreffer als Bildinhalte. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch, dass viele Low-Tech-Bilder unterschiedliche Qualitäten zeigen, dass es kaum Selektion und Ausschuss zu geben schien. Man wird als Betrachter das verwirrende Gefühl nicht los, hier wurde nicht nur die Medialität des fotografischen Materials von Beginn an als Minderwertiges, ja als Abfallprodukt konzipiert, das Faktische weicht auch noch dem Kontrafaktischen, die Fotowand erscheint beinahe als inszenierter Fotoabfall mit Motivmüll.
Hier scheint es mir, dass es um eine Dialektik des Artefakts selbst geht, die sich aus der Entwicklung der Fotografie ergeben hat. Als die Lomografie zu Beginn der 1990er Jahre entstand, war analoge Fotografie als technischer Akt komplett standardisiert und durchprofessionalisiert. Würde ich einen berechtigten Vergleich mit der Malerei wagen, läge diese Standardisierung bezüglich der technischen Herausforderung der eingesetzten Mittel irgendwo zwischen Malen nach Zahlen und Bob Ross-Malerei.
Geimers Buch zu den Bildern aus Versehen belegt sehr schön, wie komplex die notwendige Handhabung und theoretische Auseinandersetzung mit dem neuen Medium in den ersten 100 Jahren war, aber gerade aus diesem Grund in der Hochzeit der Moderne vielen Künstlern wie Strindberg (den ich dadurch als Maler und Fotografen erst entdeckte!) einen geradezu expressionistischen Umgang mit diesem Medium ermöglichte. Wer Anfang der 1990er Jahre und aufgrund der gleichen Motivation das freie, kreative Spiel mit einer kostengünstigen Kamera suchte, musste sich – und das wird fast immer übersehen – über bereits vorgegebene Regeln der inhärenten, technischen Automatismen und das erreichte Qualitätsniveau der Apparatetechnik aktiv hinwegsetzen. Die 10 Regeln der Lomografie sind deshalb vor allem ein Gegenentwurf zu geltenden Regeln der Fotografie:
https://www.lomography.de/about/the-ten-golden-rules
Es gab also keine Möglichkeit, sich selbst als Macher der Bilder zurückzunehmen und der Fotografie ihre eigenständige Komplexität zurückzugeben, die sie einmal hatte. Nämlich so, wie das in der Morgendämmerung der Fotografie die Regel war, als sich Fotografen den kaum kontrollierbaren Verhalten des Materials und der Technik zwangsweise unterordnen mussten.
Für die Piktoralisten war es nicht nur ein Ziel, eine an impressionistischen Malereien orientierte Bildwirkung zu erzielen, es blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Ansel Adams und Edward Weston fanden wiederum erst zu Beginn der 1930er Jahre die Mittel, eine Gruppe „f/64“ mitzugründen und die absolute Bildschärfe und ein absolutes Tonwertspektrum bis ins Detail zu ihrem Ziel zu erklären. David Hamilton musste bereits für seine softerotisch-schwülstigen Filme und Fotos seine Objektiv manipulieren.
In einem Fotoforum fragte vor ein paar Wochen ein Nutzer nach einem billigen Objektiv mit möglichst vielen Abbildungsfehlern aus dem 19. Jahrhundert, die er für das Projekt einer befreundeten Künstlerin suchte. Allein: nicht einmal 70 Jahre alte Schrott-Objektive waren annähernd so schlecht wie die besten Objektive um das Jahr 1900.
Die Lomografen sind damit aber auch keine „blinden Knechte“, als die ich sie weiter oben hypothetisch klassifiziert habe und als die ich selbst sie lange Zeit betrachtete, sondern im Gegenteil: es sind freie Geister mit ihren Spiel-Zeugen, denen sie ihre eigenen Regeln aufbürden – so wie Katzen, die sich nicht in die sauteure Katzenhöhle legen, sondern in den Karton, mit dem die Höhle geliefert wurde.
Wie Du in Deiner vorletzten Mail bezüglich meiner Wagner-Arbeit abgeleitet hast, ist das Artefakt abhängig davon „wie viel an einem Bild von dem Programm abhängt, mit dem es gemacht wurde.“ Das Artefakt als Motivation der Projekt-Grundlage hatte ich selbst zwar anhand eines zufälligen Smartphone-Schnappschusses gesehen, das im Hintergrund meinen Bildschirm mit einem auffällig geschärften Wagner-Bild zeigte, kapiert habe ich es selbst aber auch erst im Verlauf des Projektes.

Und hier schließt sich jetzt ein Kreis. Das fotografische Artefakt hat sich schrittweise in ein von Programmen oder Algorithmen bestimmtes Artefakt gewandelt. Und so, wie Rezipienten den Ergebnissen dieser Dialektik ausgeliefert sind, bin ich der Dialektik der Programmautomatiken ausgeliefert, die ich in ihrer Fülle und der zu erwartenden subtilen Unterschiede bei allen Kameras noch gar nicht ausgelotet habe. Erkenntnisgewinn erhoffe ich mir auch dadurch, dass alle Kameras, bzw. deren Programmierer davon ausgehen, dass sie die Wirklichkeit, das Faktische des „So-ist-es-gewesen“ am besten und genauesten, ja am getreuesten abbilden, was ich allerdings auch noch als Mythos darlegen, also dekonstruieren möchte.
Das wichtigste an Deinen Mails ist die Tatsache, dass Du mich immer wieder auf den richtigen Weg bringst. In Deiner vorletzten Mail war es Dein Hinweis, dass Du die Dialektik Fakt-Artefakt näher betrachten würdest als meine – wichtige aber nicht entscheidende – Dialektik der Medialität. Durch Deine letzte Mail bin ich jetzt auch erst darauf gekommen, warum ich diesen Aufwand mit dem Mühebild auf mich nehme, ja warum ich diesen Aufwand und das Beharren auf immer neue Spannungsfelder immer als entscheidend und notwendig ansah, ohne genau zu wissen, warum.
Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ich zur Lomografie oben geschrieben habe, tatsächlich den Kern des Selbstverständnisses der Lomo-Verfechter trifft. Aber es ist eine Erklärung, die auch ein Teil des Werdegangs meines Projektes ist. Ich habe zunächst alle möglichen Details und Totalen des Aufbaus fotografiert und dabei immer andere Objektive, teilweise mit Vorsatzlinsen oder Linsen auseinandergebastelter Objektive verwendet. Wenn ich mich auch aus dem Prozess herausnehmen wollte, es waren Manipulationen, wenn auch nicht linear und wissenschaftlich-experimentell, sondern divergent und spontan-spielerisch konzipiert.
In weiteren Schritten habe ich dann den Ablauf immer weiter standardisiert, anschließend kaufte ich eine möglichst große Auswahl alter Digitalkameras und begann parallel noch mit analoger Technik der Zeichnung, zukünftig wird auch Malerei folgen. Dass ich das Vorgehen wie beim Wagner-Projekt auch mit den alten Kameras umsetzen will, erwähnte ich bereits. Während ich für die Aufnahmen der vorletzten Reihe noch die alten Digitalkameras auf einem Stativ befestigte und einem Prinzip der Aufnahme und Abständen folgte, zeigen die letzten Kontaktabzüge, die ich Dir schickte, eher Schnappschüsse und alle als Freihandfotografie. Nicht wirklich Lomo, aber unbewusst schon mit dem Ziel, das ich oben zu Lomo beschrieb. Ich habe absichtlich kein Foto aus der Sammlung entfernt, was ich vorher noch oft tat, und zwar direkt nach der Aufnahme durch die Kontrollmöglichkeit des Kamerabildschirms. In einem weiteren Schritt ist schon länger geplant, die Kameras wie ein Lomo-Freak nur grob in die Richtung des Motivs zu halten und unabhängig von der Schnelligkeit der Autofokussysteme der Digitalkameras „draufzuhalten“. Die „Low-Tech-Revolte“ der Lomografen übertrage ich als totale Ignoranz der Apparate-Regeln.
Wichtig ist für das ganze Projekt nur, dass kein Vorgehen, keine Fotosession, keine Zeichnung für sich allein evidenzstiftend ist. Auch deshalb habe ich wohl auch noch keine Serien oder Projektdetails veröffentlicht. Das müssten schon Sammlungen werden, digitale Kunstkammern oder eines Mnemosyne-Atlas der Bildwerdung, um Deine wunderbare Analogie noch einmal aufzugreifen.


WU, 5.11.19
Vielen Dank für all Deine Gedanken. Vor allem das, was Du zur Lomografie schreibst, ist mehr als einleuchtend. Da kann ich einfach nur zustimmen und Dir recht geben. Besonders erhellend finde ich, wie Du von den Verhaltensweisen der Lomografen auf ihre Motivationen schließt.
Sehr inspirierend finde ich auch Deine neu eingeführte Kategorie des „Es-ist-ungefähr-so-Gewesen“. Das ist ja gleichsam die Verbindung der beiden gegensätzlichen Qualitäten einer Überwindung von Medialität und einer besonderen Erfahrbarkeit des Artefakt-Charakters. Und vermutlich stellt diese Verbindung eine starke Sehnsucht vieler Menschen dar, die sich mit Fotografie beschäftigen. Wobei das, was man als Foto geboten bekommt, in den meisten Fällen einseitig ausschlägt, entweder zugunsten des „Es-ist-so-Gewesen“ oder zugunsten des „Es-ist-so-gemacht“.


NP, 6.11.19
Ja, der Text hat mich zwei volle Tage gekostet, aber es hat mir so viel Spaß gemacht, Thesen, Gedanken und Ideen einmal wieder zu Papier zu bringen. Es freut mich, dass Dir meine Formulierung „Es-ist-ungefähr-so-Gewesen“ aufgefallen ist und Du darüber noch weiter und so intelligent herum- und nachgedacht hast. Mir schien das im Nachhinein auch eine der wichtigsten Überlegungen meiner ganzen Gedanken zu sein, Deine Formulierung der "Qualitäten einer Überwindung von Medialität und einer besonderen Erfahrbarkeit des Artefakt-Charakters" trifft es perfekt. Es stimmt, die Sehnsucht nach dem Artifiziellen, das mehr als nur Materialität beinhalten soll, dabei aber kein getreues Wirklichkeitsabbild sein muss, ist bestimmt ein Teil der Beschäftigung mit und Ansprüchen an die Fotografie. Vielleicht ist es sogar eine typisch menschliche, zutiefst humane, ja humanistische Sehnsucht nach Ausgleich als Prinzip jeglicher Artefakte. Ich weigere mich immer, pauschal alles sofort abzulehnen, nur weil es eine Suche oder Sehnsucht nach Harmonie, Schönheit oder Ästhetik beinhaltet. Vielleicht reagierte ich gerade deshalb auch so verärgert auf Mühes Spiel mit Klischees, Denkfaulheit und Ahistorizität, das so ein humanistisches Streben nach einem gerechten Ausgleich instrumentalisiert und konterkariert. Übrigens spielt auch Mühe mit Gestaltungsmechanismen, die für die Lomografie entscheidend sind, das "Schnappschussartige" seines Kreidefelsens und die etwas zu dramatisch gesättigten Farben brachten mich darauf.


NP, 31.12.19
Ich habe dann doch noch (gemächlich) die Reihe 18 durchgezogen. Dass ich von 8 mittlerweile 5 Stative wieder aufgegeben habe und stattdessen alles aus der Hand fotografiere, zumal hart am Rande der Verwacklungs- und Unschärfegrenze, brachte mich auf den Gedanken, dass ich nochmal genauer über diese Qualität der Schnappschussfotografie als Methode nachdenken will, das Artefakt als Produkt des Fotografen und nicht des Apparats in Anspruch zu nehmen, dass passt wiederum zur Lomografie als Extremfall der Schnappschussfotografie, aber auch zu Frosh: der hatte in seinem Buch die Zeugenschaft der Screenshots hervorgehoben, aber als "unsichtbare" Zeugenschaft, die dadurch auch den Beweis-Charakter nicht hinterfragt oder die Fragen nach der Authentizität. Das wiederum entspricht dem Beweis-Charakter der Smartphone-Fotografie, die den Perfektionismus nicht immanent wie beim Screenshot (als simple Kopie der ohnehin digital generierten, grafischen Benutzeroberfläche) in sich trägt, sondern durch intelligente Automatikfunktionen. Hier ließe sich dann auch wieder eine Brücke zur Reproduktionsfotografie schlagen, die wie beim Screenshot den Urheber als Subjekt hinter der Kamera komplett unsichtbar werden lässt wie bei Smartphone-Fotos oder Screenshots als reinste Variante.


WU, 31.12.19
Dass Du nun bei der fotografischen Dokumentation wieder verstärkt zu Fotos ‚aus der Hand‘ übergehst, finde ich sehr gut! Sosehr Du einerseits die Malerei mechanisierst, so sehr verleihst Du den Fotos damit eine individuelle Autorenschaft. Abgesehen davon ist es beeindruckend, mitzuerleben, welchen Entwicklungsprozess das Projekt hinsichtlich seiner Dokumentation durchmacht.


NP, 1.1.20
Zu den Fotos aus der Hand: Genau diese individuelle Autorenschaft ist es, die nur noch die Stative für die alte Analogkamera (bei der es eh genug immanente Fehler gibt) und für die Videokameras der Aufnahmen vom Malprozess und Analogfotoprozess übrig ließ.
Dieser Begriff der "individuelle Autorenschaft" war wieder eine Steilvorlage von Dir, dass ich genauer darüber nachdenken musste, da ich den Künstler ja zurücknehmen will und das in diesem Vorgehen sogar bestätigt sah. Mir war nur noch nicht so ganz klar, warum das so ist. Ich lasse die individuelle Autorenschaft durch die Grenzen der Apparatetechnik und die Grenzen der Optikgesetze in Erscheinung treten. Kein Dokumentarfotograf würde diese Grenzen absichtlich aufsuchen, ein Hobbyfotograf würde die sichere Automatikfunktion nutzen, ein Profi seine Erfahrung für optimale Einstellungen. Bei beiden wäre die individuelle Autorenschaft eine vom Subjekt unabhängige und damit unpersönliche des Apparats (wie beim Wagner-Reproduktionsfotografen), die aber hinter dem Faktischen des Fotos in den Hintergrund tritt (dieses Faktische der "Originalreproduktion" wurde/wird ja von den Reiss-Engelhorn-Museen immer wieder in Stellung gebracht). Indem ich aber die Grenzen auslote, wird die individuelle Autorenschaft des Apparats paradoxerweise durch die technischen oder optischen Fehler evident, weil das Faktische in den Hintergrund drängt: das Kontrafaktische der sichtbaren Fehlergrenzen lässt das Artefakt wahrnehmbar werden. In allen drei Fällen lässt sich jedoch nicht auf den Urheber schließen, das vermag nur das Faktische des Bildinhalts. Also: durch die Hervorhebung des Kontrafaktischen mache ich das Artefakt als "individuelle Autorenschaft" sichtbar. Bzw. ich versuche es zumindest ;-)


WU, 2.1.20
Sehr interessant, was Du über die ‚individuelle Autorschaft‘ schreibst. Dass Du nun vermehrt Fotos aus der Hand machst, ist auch für mich gerade nicht damit verbunden, den Künstler doch wieder zurückzuholen. Im Gegenteil! Und das gleich doppelt. Den einen Grund nennst Du selbst, wenn Du darauf hinweist, dass durch diese Praxis ja viel eher die Grenzen des Apparats deutlich werden, es also nicht darum geht, so etwas wie einen eigenen (genialen) Blick zur Geltung zu bringen. Für mich ist aber auch wichtig der Kontrast zu der Strategie, die Du beim Malen des Bildes anwendest. Hier könnte man ja noch einwenden, dass Du ein so strenges Konzept entwickelt hast, dass Du zwar nicht als Maler, aber als Konzeptkünstler in den Vordergrund trittst, ja eine starke künstlerische Setzung vornimmst. Genau dieser ‚Konzeptualiserungsverdacht‘ aber wird konterkariert durch die ganz anderen Strategien, die bei der Dokumentation des Gemäldes zur Anwendung kommen. Und indem Du diese immer wieder änderst, Dich sozusagen während des Prozesses immer wieder umentscheidest, machst Du eben mehr und etwas anderes als Konzeptkunst, wirst als Künstler und Autor immer noch weniger gut fassbar. Der Urheber entzieht sich vielfältig seinem eigenen Projekt - so könnte man auch bilanzieren, was Du machst. Das könnte man Dir das ja wieder als künstlerische Superstrategie vorhalten ;-)


NP, 3.1.20
Dein Gedanke zum bewussten Aufbrechen des Konzeptualisierungsverdachts als weitere Grundlage meiner Arbeit ist super! Ich hatte immer wieder überlegt, auch das Konzept der von Anfang an stringenten Dokumentation mit der Analogkamera und den Videoaufnahmen vom Malprozess und der Ausführung jener Fotodokumentation aufzubrechen, aber das wird bis zum Schluss so bleiben, es ist eng verbunden mit der Strenge und Stringenz der Kästchenmalerei. Das gilt auch für die Fotos von der Palette und vom Blick durch den Sucher der Analogkamera.
Aber es ist so, wie Du schreibst: indem ich die Strategie der begleitenden Fotoarbeiten ständig geändert habe, bricht dieses Bild vom Konzeptkünstler immer wieder und immer weiter auseinander.
Länger habe ich gestern zu Deiner wichtigen Bemerkung nachgedacht, die am Rande auftauchte zur "künstlerischen Superstrategie".
Ich kann nicht verhindern, wenn diese Nicht-Strategie eines strengen konzeptuellen Vorgehens als "Superstrategie" wahrgenommen würde. Analog zum Axiom von Watzlawick bin ich davon überzeugt: man kann in der Kunst nicht nicht-strategisch konzeptualisieren ;-)
Auch die vermeintlich größte Autonomie und Freiheit im Sinne einer Nicht-Kunst ist ein Statement und damit ein Konzept, die Freiheit ist nur eine Chimäre. Mehr noch, gerade diejenigen Kunstrichtungen, die diese Freiheit am konsequentesten durchziehen wollten, endeten in der eindeutigsten Klassifizierung mit größtmöglicher Beliebigkeit, das gilt vor allem für alle Spielarten der Abstraktion oder des Expressionismus. Das war und ist es auch, was ich Richter bis Anfang der 70er zugutehalten würde: nur die Malerei als Thema, bei ihm unabhängig von Technik und Sujets. Gleichzeitig ist er das beste Negativbeispiel dessen, was Du als "künstlerische Superstrategie" erwähnst und auch bei ihm immer mehr in die langweiligste Beliebigkeit führte, mit den Birkenau-Bildern als bisherigem Tiefpunkt.
Es kann gut sein, dass das, was ich nun bis zum Ende des Projekts vorhabe, doch noch an einigen Stellen erneute Wendungen erfahren wird. Aber genau hier gilt es für mich, das formulierte Axiom nicht aus dem Auge zu verlieren: das Ziel ist nicht, unstrategisch vorzugehen, sondern eine Bildkritik zu formulieren. Ansonsten würde ich in die Fallen laufen, in die ich anfangs zeitweise geraten war: durch Manipulationen die Nicht-Strategie zur Strategie zu machen, also ein selbstreferenzielles Superkonzept zu verfolgen. Diese Fallen gehören aber als Teil meines Projektes dazu und bleiben erhalten, was ein "konzeptueller Nicht-Stratege" eben niemals machen würde. Ich beobachte also mehr, oder - wie Du einmal geschrieben hast - ich betreibe so etwas wie eine Archäologie der eigenen Bildgenese. "Der Urheber entzieht sich vielfältig seinem eigenen Projekt" - das ist noch besser und ganz großartig formuliert!

WU, 4.1.20
Ja, unabhängig von allem Spekulieren über Strategien und Nicht-Strategien ist Bildkritik ein unabschließbarer Prozess - etwas, das immer wieder neu auf Sachverhalte reagieren, sich methodisch anpassen und weiterentwickeln, diversen Reflexionsprozessen und Metadiskursen unterworfen sein muss. Und gerade das machst Du so großartig! Was während der ersten 18 Reihen des Mühe-Bildes schon alles passiert ist, ist sagenhaft. Und allein deshalb kommt einem die Frage danach, ob das jetzt künstlerisch ist oder nicht, bieder und an der Sache vorbei vor. Du gehst gegen einen übermäßigen Künstlerbegriff nicht damit an, dass Du Anti-Strategien entwickelst, die den Künstlerbegriff letztlich doch wieder nur neu feiern, sondern indem Du ganz klar etwas Wichtigeres dagegenstellst. Eben Bildkritik!

NP, 4.1.20
Genau: die Kunstfrage stelle ich nicht, die darf sogar obsolet werden durch die Prozesse der Bildkritik. Der Kunst- und Künstlerhabitus war ja schon der größte Teil des Unbehagens, das mich vor fast 40 Jahren bei den Aufnahmeprüfungen an den Akademien umfing wie eine anachronistische und unangenehm penetrante Weihrauchwolke.
Die Strategiefalle fiel mir auch deshalb ein, weil ich sie als gängiges Problem in Webdesignprozessen kenne. Es gibt Ex-Kollegen, die sich ständig mit den richtigen Strategien, Tools und Prozessen befassen und dabei ihre eigentliche Aufgabe als Ziel verlieren. Das sind Experten für bestimmte Strategien, Tools und Prozesse, aber nur selten für die Umsetzung einer guten Website.

 

 

NP, 4.1.20
Anbei nun fast alle Werkzeuge der begleitenden Fotoarbeit. Die wenigen Malutensilien müssen jetzt auf einem Hocker unterhalb des Tisches parken.
Ich musste eben selbst nachrechnen: insgesamt 26 Kameras, 23 Apparate lichten jedes Kästchen ab. 1232 Fotos und 88 Videoaufnahmen. Pro Reihe…
Theoretisch. Praktisch vergesse ich immer mal ein Foto, was ich anfangs sehr bedauerte, mittlerweile aber annehme, auch das gehört zu Brüchen der Kritik, die am Ende umso evidenter den Aufwand demonstrieren.
Die Gesamtsumme der Dateien für 44 Reihen kann ich auf Grund der unterschiedlichen Änderungen im Prozess nicht überschlagen, aber ich glaube, das will ich auch gar nicht ;-)

WU, 7.1.20
Was für ein schönes Foto: die einsatzbereiten Kameras, eine kleine Armee voller neugieriger Objektive. Und einmal mehr natürlich eine Reihe von Zahlen, die Erhabenheitsgefühle wecken. Man kann sich all die Bilder, die da Reihe um Reihe entstehen, gar nicht vorstellen.
Es gibt einen schönen Aufsatz von Peter Schneemann, in dem er beschreibt, wie Installationskünstler wie Christoph Büchel ihre Arbeit vor allem über große Kennzahlen definieren (wie viel Material wurde bewegt, wie viele Arbeitskräfte waren im Einsatz etc.), doch was da zum Making-Of gehört, ist bei Dir nun zur Dokumentation bzw. Post-Produktion geworden. Das ist aber ein entscheidender Unterschied. Denn bei den Installations-Matadoren geht es darum, Potenz zu zeigen, das Werk selbst monströs zu machen - und damit natürlich einmal mehr einen Künstlermythos zu füttern. Du aber lässt das Werk im Gegenteil klein werden, weil sich die Dokumentation so sehr verselbständigt und übermächtig wird. Damit aber löst zu zugleich den Künstlermythos auf - nochmal in anderer Weise, als wir das schon besprochen haben.


NP, 7.1.20
Ja, ich lasse das Werk kleiner werden, es fällt hinter dem Dokumentationsaufwand zurück, ein Aufwand jedoch, der trotz seiner quantitativen Überfülle qualitativ-fotografisch doch fragil und stets fehlerbehaftet, ja technisch mittelmäßig bleibt. So viel geschaffen und dabei alles marginalisiert: Werkbegriff, Künstlermythos, Legende vom guten Foto, Glaube an die perfekte Technik…


NP, 4.2.20
Ich übersende Dir mal zur Ansicht und zum visuellen Verständnis einen Kontaktabzug des ersten Kästchens der Reihe 20, da kannst Du sehr schön sehen, was ich so abstrakt versucht habe, in Worte zu fassen. Es sind nicht nur die unterschiedlichen Abstände und damit leicht unterschiedliche Ausschnitte, sondern auch die von Leuchtstoffröhren verursachten Helligkeits- und Farbtonverschiebungen. Die 24 Fotos machen die Evidenz des Artefaktes schon sehr gut sichtbar. Die Quantität als vielfache Wiederholung im Sinne der theoretischen Reproduzierbarkeit des fotografischen Aktes, ja als Reproduzierbarkeit vom vermeintlichen Fakt des Motivs wird so zur Legende.

WU, 5.2.20
Ja, die Reproduzierbarkeit erscheint auf einmal als pure Fiktion. Du kennst vermutlich die Arbeiten von Claudia Angelmaier, die Reproduktionen desselben Werks aus verschiedenen Büchern kombiniert hat - z.B.: http://www.claudiaangelmaier.de/works/pflanzen-tiere_2/ Was Du machst, geht aber wesentlich weiter, weil Du selbst ja die bildgebenden Faktoren bewusst bestimmst oder als solche überhaupt erst identifizierst. Und das zudem in ungleich größerem Umfang.


NP, 5.2.20
Claudia Angelmaier kannte ich nicht, eine interessante Entdeckung, danke!
Nachdem ich für Dich gestern den aktuellen Kontaktabzug anfertigte, hatte ich übrigens überlegt, nicht nur ein Kästchenfoto mit der jeweiligen Kamera anzufertigen, sondern drei Auslösungen vornehme. Da so viele unkalkulierbare und unkontrollierbare Faktoren das Foto bestimmen, würde nicht mal in dem Fall von drei Auslösungen hintereinander identische Fotos entstehen. Bislang habe ich verwackelte oder nicht im Fokus stehende, unscharfe Fotos nach der Kontrolle gelöscht, das werde ich bei der nächsten Reihe nicht mehr machen, es gibt drei Auslösungen und damit drei Fotos mit unterschiedlichen Qualitäten.


WU, 25.3.20
Danke für die Dateien. Wenn man sie, was ich gerade gemacht habe, übereinanderlegt und dann nacheinander öffnet, werden die feinen Unterschiede von Kamera zu Kamera - aber auch abhängig von Lichteinfall etc. - sehr gut wahrnehmbar. Und ich staune immer wieder über das Spektrum der Nuancen.
Zugleich wird der Malprozess sehr schön sichtbar. Und wie sich ein Ton in seiner Wirkung jeweils verändert, wenn von rechts das nächste Kästchen ‚nachrückt‘! So wirken die Tableaus mit den Einzelfotos in der Summe sehr musikalisch.
Und das Gesamtbild: Ihm sieht man das ‚Begleitprogramm‘ wirklich nicht an! Hier ist gleichsam zur Ruhe gekommen, was man auf den Fotos im Zustand des Sich-Organisierens bzw. Organisiert-Werdens sieht.


NP, 25.3.20
Ja, ich selbst habe auch sehr lang diese Sammlung betrachtet, so intensiv mache ich das sonst nie. Du hast völlig recht, man kann diese riesige Abfolge auch sehr gut mit einem musikalischen Klangbild vergleichen. Auf jeden Fall erfordert diese Quantität auch ein überdurchschnittlich großes Zeitfenster, bis überhaupt erst einmal alles erfasst ist, auch wenn man diese Sammlung visuell sehr schnell durchschreiten will. Das war mir selbst erst gestern bei der Umsetzung der Kontaktabzüge aufgefallen. Die Reihe hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen (zu viel) und ich war mir zwischendurch nicht mehr sicher, ob ich dieses Ergebnis einer ästhetischen Erfahrung überhaupt erzielen könnte.
Bei der Hälfte der Reihe fiel mir auf, wie viele Fehlauslösungen ich wieder löschte, oft gelang nur jeder vierte Schuss. Teilweise liegt die Schärfeebene bezüglich des Abstands zwischen Objektiv und Kästchen bei einem Millimeter. Minimale Veränderung der Kamerahaltung führt dann schon zu unscharfen Bildern.
Ich werde ab der nächsten Reihe Kameragruppen bilden und nicht mehr jedes Kästchen mit allen Kameras abfotografieren, vielmehr die Kameras vier- oder fünfmal auslösen lassen, dafür aber nur ein Viertel oder Fünftel aller Kameras je Kästchen einsetzen. Dabei werden alle Fehler mit dokumentiert, die, da bin ich mir sicher, in der Gesamtheit der fast 2000 Fotos nicht als Fehler auffallen, sondern Teil des ästhetischen Erlebnisses werden. Hier passt sogar wunderbar Dein Bezug zu Musik: da außer der Unschärfe oder Verwackelung alle Parameter identisch bleiben, wird das Klangbild lediglich differenzierter, es fällt aber nicht auseinander. Das tut es ja jetzt schon nicht, trotz der teilweise extremen Farbverschiebungen, die durch die Tageslichtröhren verursacht werden. Deren Flackern ist für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar, aber die kurzen Auslösezeiten halten diese Inkonsistenzen dann fest.


WU, 26.3.20
Eine sehr schöne Idee, was Du da für die nächste Reihe planst. Ich bewundere, wie Du das Setting immer wieder etwas änderst, neue Aspekte ins Spiel bringst und Deine Bildkritik so immer weiter treibst, aber auch geradezu systematisierst. Du kannst bald Theorie-Patenschaften für einzelne Reihen vergeben ;-)


NP, 26.3.20
Ja, das Setting verändert sich ständig. Ich merke allerdings, dass ich nur noch dienender Interpret bin. Mit fortschreitender Arbeit bestimmen die Parameter und Ergebnisse der abgeschlossenen Reihe die Vorgaben für die nächste. Die Kästchenreihen werden zu experimentellen Testreihen, die den Fortgang des Prozesses bestimmen. Meine eigenen Ideen entsprechen deshalb zunehmend der reaktiven Gestaltung auf der Grundlage von Vorgaben systematischer Notwendigkeiten. Das Ziel, mich selbst als Künstler im klassischen Sinne komplett zurückzunehmen, beinhaltete ja stets die Gefahr vom "Nichtkonzept als Konzept", die Du einmal sehr klar erkannt und hervorgehoben hast. Prozessbedingt ist diese Falle durch die bestimmenden Parameter automatisch überwunden, ohne Tricks oder den Einsatz von Filtern. Das konzeptuelle Vorgehen vollzog vielmehr schrittweise selbst diesen Akt, ohne, dass ich das selbst auf diese Art und Weise vorhergesehen oder gar geplant hätte. Insofern stimmt es zwar, dass ich das Setting "systematisiere", wie Du schreibst, ich selbst bin aber mittlerweile nur noch der Dirigent, nicht mehr der Komponist. Und diese Entwicklung gefällt mir.


NP, 27.5.20
Ich habe mit der Reihe 38 doch noch einmal die grundsätzlichen Parameter geändert. Zu jedem Kästchen machte ich zuletzt mit 8 Kameras je 5 Fotos. Die Kameras waren so eingestellt, dass Verwacklungseffekte noch immer minimiert waren. Es gibt subtile Unterschiede durch die leicht unterschiedlichen Qualitäten der vielen Objektive, aber nichts Gravierendes. Das Hinterfragen der Bildwirklichkeit als Fakt und zugleich Artefakt soll wieder gebrochen werden, in dem Sinne, dass ich zum Ende eine endgültige Egalisierung der unterschiedlichen Qualitäten erreiche. Nicht durch absichtliche Verfremdungen, sondern dadurch, dass ich die doppelte Belichtungszeit einstelle. Von Reihe 38 bis 40 wird es also nur noch wenige scharfe Fotos geben. Von Reihe 41 bis 43 werde ich die Belichtungszeit nochmals verdoppeln, dann wird es nur unscharfe Fotos geben. In der letzten Reihe kann ich das dann nur noch bei Teleobjektiven machen, die dann eher nur noch schwammige Flächen zeigen werden. Zum Finale also noch eine neue Dimension.


WU, 27.5.20
Für den Betrachter der Fotos der letzten Reihen wird es aufgrund der vermehrten Unschärfen nach einer Beschleunigung aussehen, nach einer Dynamisierung, durch die das Objekt sich nach und nach auflöst. Ich finde, das hat auf sehr gute und angemessene Weise ein gewisses Pathos! So wie Opalka immer heller wurde und die Zahlen damit schwerer zu lesen waren, wirst Du immer unschärfer.


NP, 2.6.20
Du hast absolut recht, das ist in seinem Abschluss nicht ganz frei von Pathos. Vielleicht war es unvermeidbar geplant.


NP, 14.6.20
ich sitze hier mittlerweile an der letzten Reihe und mache nun mit allen Kameras 5 Aufnahmen von je einem Kästchen, das zieht sich natürlich, am Ende werden ca. 9000 Fotos nur von den Kästchen der letzten Reihe entstanden sein. Danach werde ich noch die 1900 Schwarzweiß-Negative scannen und parallel überlegen, wie ich das Gesamtwerk des Gemäldes fotografieren will. Ich erwäge auch immer noch, die Paraphrase des Sonderkommando-Fotos mit einem halbdeckenden Zinkweiß zu übermalen, dass am Ende nur noch eine gleichsam blasse Erinnerung an das Motiv erkennbar ist.


WU, 26.6.20
Jetzt wird mir noch viel deutlicher, dass Du den wohl bestdokumentierten Werkprozess der gesamten Kunstgeschichte vorweisen kannst. Und das ‚wohl‘ lässt sich gelinde streichen. Man hat das Gefühl, hier habe sich ein autopoietisches System entwickelt - und so etwas wie einen Autor gibt es gar nicht mehr. Die Apparate machen wechselseitig Bilder von sich und ihrem Einsatz. Flusser wäre begeistert - und nicht nur er.


NP, 26.6.20
Die Fotoreihen spiegeln tatsächlich mehr einen selbsterschaffenden Prozess wider, es ist doch weit mehr als eine reine Dokumentationsarbeit. Dieses Prinzip habe ich im Laufe des Prozesses noch weitergeführt, teilweise sind es mehr als drei Kameras, die gegenseitig und damit wechselseitig fotografische Artefakte generieren. Was für ein schöner Fingerzeig auch auf Flusser, lieber Wolfgang! An den dachte ich tatsächlich mehrfach, ich glaube, da gibt es auch eine Verbindung zu einem autopoietisches System, oder?
Ja, die Herausforderung ist im Moment gewaltig, es macht aber auch sehr viel Freude, die ganze Arbeit nun mit einem so großen Abstand zu begutachten. Ich beobachte mich dabei selbst, da ich ungefähr noch erinnere, welche Wandlungen, Erweiterungen, Ergänzungen, Streichungen und Änderungen der ganze Prozess genommen hat. Umso wichtiger ist es, dass ich mit diesem Wissen nichts mehr am Prozess selbst ändere, also Fotos lösche, selektiere oder hervorhebe.


WU, 27.6.20
Dass Du die Dokumente des Werkprozesses nicht selektieren oder hierarchisieren willst, ist völlig klar! Die Frage ist wohl eher, wie man das Material zugänglich und erschließbar macht. Website? Datenbank? Account? Analoge Archivierung?
Hast Du schon einen Überblick, wie viele Fotos es insgesamt sind?


NP, 27,6.20
Gute Frage, was die Erschließung der ganzen Fotos angeht. Mittlerweile bearbeite ich Reihe 7, da sind es schon 6400 Fotos, ich schätze mal ganz grob, dass am Ende insgesamt ca. 50.000 Fotos zusammenkommen. Plus ca. 1000 Videoclips.
Meine bisherigen Überlegungen, zu denen ich sehr, sehr gern Deine Einschätzung, Meinung und Kritik hören würde: Eine Website ist gut für Hintergrundinformationen und als Einstieg in das Gesamtprojekt. Also vorwiegend Text(e) mit Einbindung der Video- und Fotogalerien. Ich halte die klassischen Plattformen flickr und Youtube immer noch für die besten Lösungen, das zu präsentieren. Instagram wollte ich ursprünglich, aber da sind die Formate zu beschränkt. Insta muss regelmäßig gepflegt werden, es ist eben als Social Media-Plattform optimiert. Bei Flickr könnte ich sogar die Fotos in Originalgröße posten, das mache ich aber nicht, ich rechne alles auf 6 Megapixel runter. Eventuell stelle ich die als CC-Lizenz ein. Die Videoclips würde ich eventuell pro Kästchenreihe zusammenfassen, mit einem kurzen Überblendungseffekt, die Klappen sieht man ja eh auf den Videos. Das würden bei den Aufnahmen des Malprozesses also 44 Videos à ca. 40 Minuten pro Reihe ergeben, bei der Videodokumentation des Auslösers der Analogkamera 44 Videos à 15 Minuten. Dafür bietet sich Youtube einfach besser an, schon aufgrund der HD-Qualität, mit denen ich die Videos aufgenommen habe. Youtube und Flickr kann ich außerdem in einem Schwung mit der Masse an Dateien füllen und das zeigen/bewerben.


WU, 28.6.20
Danke für Deine Ausführungen zur ‚Postproduktion‘! Was Du für die Website vorsiehst, finde ich sehr gut. Ich fände es schön, könnte da zum Start so eine Art Interview mit Dir zu lesen sein - das natürlich am liebsten ich mit Dir führen würde ;-) Flickr und YouTube sind sehr gut, Tumblr käme auch in Frage, Instagram fände ich den falschen Ort. Aus den von Dir genannten Gründen.


NP, 28.6.20
An Tumblr hatte ich gar nicht gedacht, das wäre aber auch eine Alternative bzw. eine gute Ergänzung zu flickr, danke! Im Moment sitze ich ja noch Wochen an der Postproduktion der Fotos und Videos.


NP, 30.6.20
Mit den insgesamt doch 80.000 Fotos, inkl. den Analogbildern, habe ich jetzt zu tun. Die Bearbeitung ist abgeschlossen. Mit Lightroom kann ich automatisch ein Wasserzeichen einfügen, das wird bei flickr alles als cc-by-sa ausgegeben. Ich habe heute Vormittag extra noch eine iRights-Broschüre gelesen, weil ich mir mit der nichtkommerziellen Nutzung nicht sicher war. Anbei ein Beispiel, eines der ersten Fotos.

WU, 30.6.20
Die Art der Lizenzierung finde ich sehr gut so - Du gibst alles frei, aber Dritte dürfen nicht eigenmächtig die Copyright-Bedingungen verändern.

NP, 3.7.20
Die Umwandlung der Kamera-Rohdaten in JPEG-Bilder dauert pro Reihe über eine Stunde, aber 27 Reihen sind bereits geschafft, dafür muss der Rechner auch von morgens bis abends ran :-)
Heute sind die letzten, entwickelten Negative aus der Analogkamera angekommen, parallel werde ich dieser Tage also auch alle verbliebenen Filmstreifen abfotografieren. Auf zwei weiteren Filmen habe ich noch das fertige Gemälde abfotografiert, außerdem Stills aus dem Film "Ewiger Wald" aus dem Jahr 1936 (wieder diese Zahl, Zufall!): https://archive.org/details/1936-Ewiger-Wald
Ergänzt habe ich den SW-Film noch mit Analog-Screenshots von der Google-Bildersuche zu "Wald" und "Kreidefelsen".
Im Moment lese ich "Bilder trotz allem" von Didi-Huberman (übersetzt übrigens von Peter Geimer), in dem es um genau die 4 Fotos des Résistance-Mitglieds geht. Aufgrund der Auseinandersetzungen, denen Didi-Huberman ausgesetzt war, hat das Buch nicht nur einen zweiten Teil, mir ist jetzt aufgefallen, was das Problem des jetzigen Zustands meines Gemäldes darstellt: das bruchstückhafte Artefakt, dessen Faktizität zur überfrachteten Bildikone wird, trotz der Verfremdung und der Wahrung der Würde der abgelichteten Opfer, die ich nicht einmal in der Verfremdung abgebildet habe. Da die Überfrachtung -wenn auch eine andere- exakt das ist, was ich Mühe mit dem gesamten "mühevollen" Projekt vorwerfe, kann das historische Dokument nicht einmal in seiner aktuellen Form sichtbar bleiben.
Ich werde also das nicht abbildbare Bild ebenfalls nur mittelbar als historischen Moment sichtbar lassen, indem ich seine vollständige Unsichtbarmachung dokumentiere. Ganz praktisch bedeutet das: ich werde erneut meine Stative mit ca. einem halben Dutzend Kameras aus unterschiedlichen Perspektiven und verschiedenen Objektiven unterschiedlichster Qualität aufstellen und jedes Kästchen mit Weiß schließen und anschließend je ein Foto mit den Kameras schießen. Das wird zwar auch 2-3 Wochen dauern, aber dann könnte ich das tun, was mir aktuell versagt bliebe: das Gemälde gleichrangig zur gesamten Dokumentation präsentieren, dann bliebe dort eine Leerstelle, dessen Bildinhalt sich von Anfang an nie als direkter Teil der Mühe-Kritik gezeigt hat und deshalb auch am Ende des Prozesses weder als falsche Assimilation noch als instrumentalisiertes Mittel einer Bildkritik interpretiert werden kann. Die Leerstelle bleibt als weiße Hälfte des Gemäldes evident sichtbar. Lediglich in der Erinnerung der wenigen, oben erwähnten analog-monochromen Schlussaufnahmen und den dokumentierenden Fotos der Übermalungsprozedur wird das verfremdete Auschwitz-Bild sichtbar gemacht(!), ohne sichtbar zu sein.
Als ich diese Idee hatte, fiel eine ungeheuerliche Spannung aus meinem tiefsten Herzen ab, die mich von Beginn an immer wieder plagte. Deshalb auch meine halbherzige Idee vor ein paar Wochen, das Motiv doch noch etwas abzumildern. Und ich glaube, auch Dein zu Beginn vorhandenes Unbehagen beruhte auf diesen sehr gesunden und wichtigen Restzweifeln, was diese schädliche, weil unangemessene Assimilation des Richtigen im Falschen angeht. Gestern hatte ich sogar noch einmal Deine Idee mit dem Vorhang, die ich ja auch schon vor Monaten hatte, ins Auge gefasst. Allein, das war mir immer noch zu partizipativ-spektakulär, ein zu immersives und damit der Nüchternheit entgegenstehendes Element des gesamten Projekts. Alle Ideen unbedeutender Bildpräsentation beruhten eigentlich nur auf der Notwendigkeit, das Gemälde noch weiter in den Hintergrund zu rücken, um das Auschwitz-Bild einer Assimilation bzw. instrumentalisierter Überfrachtung als Bildikone und Mittel zur Kritik gleichermaßen zu entziehen, was aber durch das alleinige Vorhandensein des wie auch immer verfremdeten Sonderkommando-Fotos auf dem Gemälde unmöglich ist.
Vielleicht verwende ich ein nicht hundertprozentig deckendes Zinkweiß, dass selbst bei unverdünntem Auftrag immer noch ein sehr schwaches Durchscheinen des Motivs ermöglicht. Oder wäre ein deckendes Titanweiß doch besser? Ich mache da mal einen Test auf einem unbedeutenden Bild aus meinem Bestand.


NP, 4.7.20
Sofern ich das mit der Fläche umsetze: Es würde keine weiße Leerstelle geben, sondern einen eindeutigen Platzhalterbereich, also eine immer noch sichtbare, monochrome Fläche. ich habe nochmal mit dem Foto direkt nach Fertigstellung gearbeitet, mit dem ich bezüglich einer weißen Lasur herumprobiert hatte.
Fest steht für mich jetzt (den Konjunktiv spare ich mir mal zum einfacheren Formulieren): Es muss eine hell-gräuliche Fläche sein, die dem Mühe-Bild nicht die Relevanz nimmt und trotzdem präsent ist. Und es muss als Konsequenz der Überlegung eine deckende Farbe sein: entweder bestehende Evidenz der Malerei oder erinnernde Evidenz dokumentierender Fotos, beides geht nicht. Und als Drittes: so wie ich beim Mühebild in Reihen fotografisch konzeptuell gearbeitet habe, kann ich auch auf Fotos je Kästchen verzichten und stattdessen nach Abschluss einer Reihe die Fotos schießen. Das sind dann 44 Streifen, mit denen das Auschwitz-Motiv nach und nach übermalt wird. Am Rechner habe ich das mal als ein früher Zwischenschritt und als Endergebnis simuliert, anbei.

WU, 4.7.20
Bei Dir ist ja wirklich eine sehr spannende Phase innerhalb des Projekts! Das Didi-Huberman-Buch kenne ich, hatte es damals im Zusammenhang mit Richters Birkenau-Zyklus gelesen. Er lud Didi-Huberman ja ein, damit der ihm den Segen gibt für sein Projekt - und Didi-Huberman beschreibt das sehr pathetisch in seinem Text zum Katalog der Richter-Bilder. Auch sein Buch finde ich passagenweise ein wenig zu dick aufgetragen, aber das habe ich nun nicht mehr so genau im Kopf.
Ich verstehe zwar Dein Unbehagen an der aktuellen Situation, aber ich finde das Bild in seiner jetzigen Form keineswegs überfrachtet. Muss es nicht sogar so sein, um im Wechselspiel mit dem zweiten Bild überhaupt erst Deine Kritik nachvollziehbar zu machen? Stünde das Bild für sich alleine, sähe ich die Gefahr der Überfrachtung auch, aber im Zusammenspiel mit dem anderen finde ich es so sehr präzise. Es muss eben nur deutlich werden, dass beide Bilder unmittelbar zusammengehören. Und das tut es ja allein dadurch, dass sie auf derselben Leinwand sind.
Würdest Du das Bild nun übermalen, diesen Prozess aber dokumentieren und die Doku ihrerseits veröffentlichen, bestünde die Arbeit letztlich aus drei Bildern. Und dass Du das so planst, zeugt ja davon, dass es Dir immer noch wichtig ist, dass man das Bild im unübermalten Zustand kennen kann, ja dass etwas Wichtiges verlorenginge, würde man nur und ausschließlich die weiße Fläche sehen. Ist es aber wirklich übermalt, wenn der Ausgangszustand noch dokumentiert ist? Wäre es dann nicht konsequenter, das Bild einfach nur zu übermalen, das aber gerade nicht zu dokumentieren? Nicht zu verraten, dass es ein anderes Bild darunter gibt? (Zur Problematik von Richters Bildern gehört ja auch, dass er suggeriert, unter der Oberfläche befänden sich seine gemalten Versionen der Birkenau-Fotos, er habe sie übermalen ‚müssen'.)
Und wenn Du das Bild übermalst und das auch dokumentierst, frage ich mich ferner, warum Du es Kästchen für Kästchen übermalst. Warum nicht mit entschlossener Geste mit breitem Pinsel in wenigen Sekunden übertünchen? Und warum überhaupt übermalen? Warum nicht abkratzen?
Vielleicht habe ich Deinen Punkt, warum Dir das Übermalen jetzt doch so plausibel oder sogar geboten erscheint, einfach noch nicht so ganz kapiert. Und ich finde, eine solch schwerwiegende Entscheidung muss sehr gut abgewogen sein. Du solltest nur machen, wovon Du völlig überzeugt bist - und daher muss ich sozusagen nochmal testen, ob Du schon ganz sicher bist ;-)


NP, 4.7.20
Ganz, ganz wichtige Fragen, lieber Wolfgang. DANKE! Darüber denke ich gerade sehr intensiv nach… Und dieser pathetische Text, ich kann mich daran erinnern, ausgerechnet Didi-Huberman hat Richter eingespannt, ja, sehr wichtig für mich, da mein Bild nicht ohne Richters Umsetzung zu denken ist, die ich ja total misslungen finde. Danke auch für diese Hinweise, den Text zu Richter fand ich nämlich auch nicht gut.


WU, 4.7.20
Richter hat es absichtlich ganz unscharf formuliert, dass man glauben sollte, er habe die Birkenau-Fotos zuerst gemalt und dann überrakelt. Vermutlich hatte er aber nur zuerst die Idee, die Fotos zu malen, hat dann aber direkt auf die Leinwand gerakelt. Es ging ihm aber auf jeden Fall um die Geste eines Unsichtbar-Machens.


NP, 5.7.20
Ich habe immer noch einen Konflikt mit dem Bild als grundsätzliches Problem der Aneignung dieses ikonischen Werkes der Shoah zum Zwecke einer Bildkritik Dritter. Das Problem ist eines der Instrumentalisierung. Ein Konflikt, den z.B. Dana Schutz mit "Open Casket" offensichtlich nicht erkannte, und dafür eine Kritik erfuhr, die ich selbst auch teile. Nun ist bei Dana Schutz die Motivation ihrer Motivwahl völlig unklar, während ich einer sofortigen Assoziation folgte, was ich an Mühes Bild kritisieren will, bzw. an allen Werken, die sich einer totalitären Ästhetik bedienen oder zu einer Interpretation als totalitäre Ästhetik einladen.
Angesichts der zahlreichen Debatten, die zum Problem der Instrumentalisierung der Shoa für andere Zwecke gerade in Deutschland immer wieder geführt werden ("There's no business like shoah business"), war das von Beginn ein heikles Unterfangen, das ich ja konzeptuell sehr fein gestrickt durch eine eindeutige Bearbeitung der Vorlage erreichen wollte.
Im Gegensatz zu Dana Schutz, die kaum überzeugende Argumente zu ihrer Motivation vorbringen konnte, oder dem ZPS, die Probleme hatten, ihre spektakulär-schäbig inszenierte Aschesäule zu rechtfertigen, kann ich sowohl Motivation als auch Mittel begründen. Ich gebe Dir völlig Recht: "Stünde das Bild für sich alleine, sähe ich die Gefahr der Überfrachtung auch, aber im Zusammenspiel mit dem anderen finde ich es so sehr präzise." Es ist aus ästhetischer Sicht auch für ich immer noch überzeugend, es ist bezüglich der Gewichtung und Aussage absolut stimmig so, wie es ist und wie ich es haben wollte.
So gesehen - und das ist mir erst nach Deiner Mail klar geworden - könnte ich nun sagen: Ja, dann kann und muss ich meinen Konflikt auch aushalten und sollte das Bild deshalb nicht vor Debatten und möglicherweise harscher Ablehnung oder Kritik verstecken: Mühe muss mit meiner Kritik klarkommen, ich dafür mit der Kritik der Instrumentalisierung eines ikonischen Werkes der Shoah.
Dennoch wurde für mich in den vergangenen Tagen immer klarer, dass mein Unbehagen über so viele Monate, ja über ein Jahr kein Zeichen simpler Zweifel an der eigenen Fähigkeit oder zu strenger Selbstkritik mehr sein kann, sondern ein Zustand, über den ich genauer nachdenken musste mit dem Ziel, eine Lösung dafür zu finden. Umso dankbarer bin ich auch für Dein so kluges und fundiertes "Nachbohren" als Test.
Gäbe es dennoch ein entscheidendes Argument dagegen, das Gemälde so zu lassen, wie es ist?
Ja, denn natürlich kann man immer noch und zu Recht argumentieren, dass selbst mein reflektierter Ansatz nichts an der Tatsache ändert, am Ende doch eine extrem polarisierende und in ihren Mitteln spektakulär inszenierte Kritik erzeugt zu haben. Eine Provokation mit Spektakel-Potenzial. Und nichts ist schädlicher für mein Selbstverständnis als das Spektakel, gegen das ich immer und vehement anmalen möchte. Nun stelle ich bewusst dem ästhetisierten Totalitarismus eine ästhetisierte Ikone des größten, menschlichen Zivilisationsbruches entgegen. Ich stehe dazu immer noch vollumfänglich. Es war genau die richtige Idee, genau das Bild der Kritik, die mir nicht nach langem Überlegen sofort in den Sinn kam, als ich mich mit Mühes Foto auseinandersetzte. Ein bewusst gewähltes Dilemma also. Hier gilt es für mich erstens zu überlegen, ob dieses offensichtliche und dem Werk inhärente Problem vermieden oder umgangen werden kann und zweitens, ob das ohne einen erweiterten Vorwurf der Konfliktvermeidungsstrategie, einer Angst vor Debatten oder dem Eingestehen der Unmöglichkeit der Verwendung des Auschwitz-Fotos realisierbar ist. Das Problem, das ich selbst bewusst geschaffen habe, ist nur diese in den Dienst einer Ästhetik-Kritik gestellte Instrumentalisierung, nicht ein selbstauferlegtes Bildverbot der Shoah-Fotos per se, dem ich mich womöglich anschlösse.
Richter, dessen Bilder meiner Verwendung des Fotos vorausgingen, hat dieses Problem zwar auch erkannt. So viel will ich ihm zugestehen und das wurde ja auch immer zu seiner Verteidigung angeführt. Er verwendete jedoch schon immer Fotos für seine ästhetische Zwecke, unabhängig von ihren politischen oder provokanten Inhalten, genau das brachte ihm bei den Birkenau-Bildern in ein ähnliches Dilemma, in dem ich mich sehe. Aber er hat das Problem meiner Meinung nach nicht überzeugend, sondern bequem und naheliegend gelöst, indem er die Motive und damit die Aussage des Werkes faktisch obsolet machte. Richter hat seine fertigen Bilder aber nicht zerstört oder als abstrakte Bilder in seine Werkreihe überführt, er beruft sich auf das Vorhandensein der Bilder unter einer Oberfläche, die dennoch nichts anderes wiedergibt als das, was all seine abstrakten Bilder ausmachen. Es bleiben am Ende Rakelbilder in Grau, die nur über den Titel und begleitende Aktivitäten wie Texte, Interviews und Briefe einen Unterschied zu anderen Werkgruppen herzustellen vermögen. Dass dort die "echten" Birkenau-Bilder unter den Rakelfarbschichten liegen sollen, bleibt ohne Dokumentation nur eine Richter-Legende, eine Aufladung mit Bedeutung über ein Narrativ. Sichtbar und damit ontologisch evident ist und bleibt aber ausschließlich die Rakelmalerei.
Wenn ich also für Richters Birkenau-Zyklus konstatiere, wenn es nicht sichtbar ist, ist es auch nicht gemalt worden, muss ich also einen Weg finden, das Gemalte sichtbar zu lassen und es trotzdem dem Spektakulären zu entziehen. Es stimmt, was Du schreibst: "Würdest Du das Bild nun übermalen, diesen Prozess aber dokumentieren und die Doku ihrerseits veröffentlichen, bestünde die Arbeit letztlich aus drei Bildern." Du hast Recht! Und Du hast bei mir das Problem des Aktes einer klassischen Übermalung in den Fokus gerückt: nicht die zwei Zustände eines Bildes sind das Problem, sondern der konzeptuelle und maltechnische Bruch in meinem Konzept.
Sehr, sehr wichtig deshalb auch Dein Einwand, wozu es denn gerade bei dem Auschwitz-Motiv einer Übermalung Kästchen für Kästchen bedürfe. Stimmt! Da gibt es bis auf das Vorgehen beim konzeptuell völlig anderen Mühebild tatsächlich überhaupt keine kausale oder konzeptuell-logische Notwendigkeit. Gleiches gilt übrigens auch für die Fotodokumentation Kästchen für Kästchen. Das war von Beginn an nur dem Mühebild vorbehalten.
Dein weiterer Gedanke "Wäre es dann nicht konsequenter, das Bild einfach nur zu übermalen, das aber gerade nicht zu dokumentieren? Nicht zu verraten, dass es ein anderes Bild darunter gibt?" führt, wie Du selbst in Klammern anmerkst, genau in die Legende, die von der ontologischen Bildwirklichkeit nicht belegt werden kann.
Das Foto als "Spur", als Dokumentation eines partiellen, ungenügenden, aber selbst im unscharfen, qualitativ minderwertigsten Zustand vorhandenen Belegs eines ontologischen Faktums sah ich deshalb als Möglichkeit, das Aneignungs- und Instrumentalisierungsproblem zu umgehen, wenn das durch das Foto belegte Bild durch Übermalung verschwindet. So ein fotografischer Beleg entspräche ja auch dem Beleg aus dem Lager Auschwitz-Birkenau im Jahr 1944.
Und damit kam ich langsam zu einer Eingrenzung des eigentlichen Problems und zu einer Lösung. Das Auschwitzfoto als Zeitdokument ist ein ganz wichtiger Aspekt. Das erste Motiv ist zwar wie das zweite inhaltlich und farblich verfremdet, aber es existiert als "nachgelebtes", in unsere Zeit herübergerettetes Bild. Die zeitliche Distanz spielt deshalb eine entscheidende Rolle, da es sich nicht um ein verfremdetes Kreidefelsen-Motiv handelt, sondern ein Dokument des Zivilisationsbruchs. Was ich dort festgehalten habe, war kein Kunstwerk wie Mühes inszeniertes Foto, sondern ein Beleg für die Anklage der Vernichtung der europäischen Juden. Ich habe daraus einen Bestandteil meines Kunstwerks gemacht, selbst auch eine Inszenierung zum Zwecke meiner Bildkritik.
Erst nach langem Nachdenken habe ich erkannt, dass ich den Charakter des Sonderkommando-Fotos als fotografische Momentaufnahme, als die es ursprünglich entstanden ist, nicht in Frage stellen will und darf. Ich will, dass es auch in der Kritik überliefert wird als Moment, als Fragment, als Augenblick. Das geht aber nur, wenn ich das Motiv selbst wieder verschwinden lasse. So, wie es jetzt auf dem Bild festgehalten ist, ist es als zeitlich-fragmentarische Element gefangen in dem Dialog einer ästhetischen Bildkritik. Aus dieser "Gefangenschaft" der Manifestation muss und will ich das Motiv wieder befreien, aber erst, nach dem ich es so, wie es sich jetzt dem Betrachter zeigt, dokumentiere im Sinne von So-Ist-Es-Gewesen und damit als meine Momentaufnahme innerhalb der Kritik festhalte.
Vielleicht erinnerst Du Dich an einen meiner ersten Entwürfe, da habe ich das retuschierte und farblich veränderte Auschwitzfoto negativ gesetzt, die Negativsetzung ist ja ein konzeptueller Bestandteil meiner Arbeit. Wir waren uns beide aber sehr schnell einig, dass das hier nicht funktioniert, weil es zu viel und Unmögliches vom Betrachter verlangt, das Motiv erschließt sich dann nicht mehr. Erst danach begann ich ja, mit der Sättigung und der Deckkraft des Motivs zu arbeiten.
Deine Mail hat dazu geführt, dass ich jetzt eine monochrome Übermalung Kästchen für Kästchen und auch eine mit breitem Pinselstrich ausgeführte, deckende oder auch lasierende nicht mehr als optimalen Weg sehe. Wenn ich weiter oben Richter für seine bequeme Lösung kritisiere, typische – also wiedererkennbare – Techniken und Bildmittel einzusetzen und das als angemessene Form der Wiedergabe der Birkenau-Fotos zu verkaufen, dann mach ich mit einer Übermalung in meinem Kästchen-Stil nichts besser oder anders, abgesehen von der Fotodokumentation. Und der breite Pinsel? Ja, da könnte jemand sogar noch nachschieben, warum nicht mit einem Rakel?
Nun, und das ist die aktuelle Idee, komme ich erneut auf das Negativbild zurück. Wenn ich den jetzigen Zustand des Gemäldes mit beiden Motiven und ausreichend Detailaufnahmen des Auschwitzmotivs fotografisch ausreichend dokumentiere (nein, nicht Abertausende von Fotos, darüber denke ich aber noch genauer nach), kann ich doch wieder meine zuerst favorisierte Idee verwirklichen, das veränderte Auschwitzfoto als Negativ zu übermalen. Und weder die Umsetzung, noch das Endergebnis werden fotografisch dokumentiert. So bleibt das Mühebild eine Anatomie der Bild- und Fotokritik und das Auschwitz-Motiv wird die Referenz, die am Ende nur noch als kaum zu erfassendes Negativ auf dem Gemälde verbleibt. Ich habe das nochmal am Rechner umgesetzt und glaube zumindest jetzt, dass das nun eine perfekte Lösung als Abschluss darstellt, so hätte ich dann auch tatsächlich drei, vor allem absolut gleichberechtigte Bilder geschaffen.
Gut, was ich beim Verzicht auf monochrome Kästchenmalerei oder auch reihenweiser Umsetzung mit aufwendiger Fotoarbeiten an Zeit spare, geht dann natürlich für das Negativbild drauf. Aber es wird nicht länger als drei Wochen dauern, länger brauchte ich auch nicht für das Positivbild.

NP, 6.7.20
Nachdem ich ja sehr detailliert hergeleitet habe, dass ich das Motiv so nicht auf der Leinwand lassen kann bzw. will und den ganzen Sermon vielleicht auch auf meiner Website zum Projekt dokumentieren sollte, habe ich beschlossen, dass es so bleibt, wie es ist. Das muss so bleiben. Bei allen Konflikten, die daraus genauso entstehen können, zu denen auch die von mir gewünschten Diskussionen über den Ästhetikbegriff nach Auschwitz gehören. Alle anderen Ideen wäre zwar konzeptuell möglich, aber nicht mit in der Konsequenz, die ich im Frühjahr 2019 anstrebte: Eine Kritik an Mühe, keine Darstellungsdialektik bzgl. des Auschwitz-Fotos.


WU, 6.7.20
Dass Du das Bild nun doch nicht übermalen willst, finde ich eine sehr gute Entscheidung - gerade wenn zugleich sichtbar/lesbar würde, wie sehr auch das nun ein Bild „trotz allem“ ist - trotz aller Bedenken, die man dagegen haben kann.


NP, 6.7.20
Als ich am sehr späten Abend die beiden Motive auf der Leinwand im Licht der Deckenlampe betrachtete, erkannte ich einfach, dass jede weitere Veränderung nicht nur meine aufwendig konzipierte Bildidee konterkarieren, zumindest verwässern würde. Außerdem, dass meine Bildkritik gerade aus dieser extremen Gegenüberstellung überhaupt erst die Berechtigung bezieht. Wozu hätten die Farben des alten, entwickelten Auschwitz-Negativfilms dann auf das Mühebild Anwendung finden sollen, wenn die Gegenüberstellung zum Auschwitzbild in Caspar David Friedrich-Farben verschwunden wäre? Und habe ich nicht explizit die Farbveränderung genau so vorgenommen, um auf das Problem, wenn nicht gar die absolute Unvereinbarkeit eines überkommenen Begriffes der frühen Moderne von Erhabenheit und Schönheit in Deutschland nach Auschwitz hinzuweisen, also das, was Adorno meinte, als er von der Barbarei sprach, würde man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben? Er meinte das ja nicht absolut, sondern ebenfalls im Bewusstsein der Erhabenheit und Schönheit des 19. Jahrhunderts, als hätte es den Zivilisationsbruch nie gegeben. Und auch, wenn ich die abgebildeten Frauen, die entkleidet Minuten später ohne Ausnahme in der Gaskammer ermordet werden, wegretuschiert habe, vermittelt das Bild in den angenehmen Tönen des Sonnenuntergangs in seiner Dialektik nicht umso mehr das gerade absolut Vorstellbare und damit die falschen Erhabenheit von Mühes Foto, das dadurch zu einer bildgewordenen Relativierung des Schreckens in Adornos Sinne wird?
Ja, und letztlich genau das, was Du so klar auf den Punkt gebracht hast: ein weiteres Bild des Auschwitz-Fotos "trotz allem", nämlich "gerade deshalb".


WU, 6.7.20
Ich freue mich wirklich sehr, dass das Bild ’gerettet’ ist und Du es nicht übermalst! Du hast ja gemerkt, dass ich damit gehadert habe, dass das großartige Konzept Deines Projekts nochmal durchkreuzt wird. Klar wäre es damit komplexer geworden, aber sicher auch verwirrender. Die beiden Bilder nebeneinander sind so schlüssig - und alles, was noch möglich gewesen wäre, steht dann in den begleitenden Texten.


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E-Mail-Dialog mit Wolfgang Ullrich, 73 Seiten
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